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Zwangsanstalt oder Schutzraum?

Von Ernst Smole

Gastkommentare
Ernst Smole war Berater der Unterrichtsminister Fred Sinowatz, Helmut Zilk und Herbert Moritz. Er ist Musikkindergärtner und Koordinator des "Bewegungs- und Unterrichtsplans für Österreich 2030".
© privat

Die Pflichtschule muss jede und jeder in Österreich absolvieren. Umso wichtiger ist die Frage nach ihrer Ausgestaltung.


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"Die Schule hat einen wunderschönen Namen. Er stammt aus dem Altgriechischen. Der von Aristoteles geprägte Begriff müsste Programm sein: Scholé heißt so viel wie Muße. Die Schule, die Scholé, wäre jener Ort, an dem noch eine gewisse Muße möglich sein müsste - ein Ort, an dem man füreinander Zeit hat und einander zuhört, zueinander findet und sich aneinander reibt, miteinander lernt und gemeinsam zu Neuem unterwegs ist. Das ist der tiefe Sinn von Schule. Bildung basiert auf Scholé, auf konstruktiver Muße. Lernen kann man nicht beschleunigen. Lernen kennt keine Autobahnen, keine Schnellstraßen und keine abgekürzten Routen oder gar Überholspuren. Da gelten Feldwege, und da gehören Bergpfade dazu - manchmal auch Unterholz und Dickicht, und natürlich Umwege. Darum braucht Lernen Zeit - eben Scholé!"

Treffender als der Schweizer Erziehungswissenschafter Carl Borssard, Gründungsrektor der Pädagogischen Hochschule Zug, kann man nicht formulieren, worum es bei Schule und Unterricht gehen müsste. Österreichs Pflichtschule ist dem Wort des Gesetzes nach eine Zwangsanstalt - alle Menschen im Land haben diese zu durchlaufen - zumindest neun Jahre lang, noch dazu in jener Zeitspanne, die für ihre Entwicklung und für ihre Lebenschancen die bedeutendsten ist.

Und die heimische Wirklichkeit? Allein in Wien beherrschen nach neun Pflichtschuljahren 66 Prozent der Absolventen das Lesen, Schreiben und Rechnen nicht berufsfähig. Die Universität Wien führt "Schreibkurse" zum Nachlernen des Schulstoffes. Teils blumig benamste Initiativen wie "Kein Kind zurücklassen", "Neustart Schule" oder "Jedes Kind", NGOs wie "Schule brennt" oder Schlagzeilen wie "Lehrermangel wegen Burnout" und "Organisationschaos in Schulen und Kindergärten" lassen erahnen, dass es mit der lernnotwendigen, der lebenswichtigen Scholé in unseren öffentlichen Bildungsinstitutionen nicht immer zum Besten steht.

Lebenswichtig? In Österreich besuchen zigtausende Kinder, die durch frühkindliche Gewalterfahrungen geprägt sind, die Schule. Die Frühprägung bleibt, lautet eine Uralterkenntnis der Kinder- und Entwicklungspsychologie. Der einzige erfolgversprechende Weg, sie nicht zum Ausbruch kommen zu lassen, ist, diesen Kindern viel menschliche Zuwendung zu geben - sehr viele von ihnen wachsen in keinen intakten Familien auf. Sie brauchen umso mehr Scholé - Ruhe, Muße - im allerbesten Sinn.

Viele Probleme im Schulsystem sind nicht neu

In Zeiten knapper finanzieller Ressourcen werden naturgemäß in Zivilgesellschaft und Politik Prioritäten diskutiert - und Bildung, Gesundheit und Pensionen gegeneinander ausgespielt. Dazu kommt, dass viele Probleme im Schulsystem nicht neu sind - es hat sie bereits lange vor der großen Fluchtwelle 2015, vor Corona und vor dem Krieg in der Ukraine gegeben. Welche fakten-, denk- und plangeleiteten, nachhaltigen Wege zur Sanierung der Schule sind bisher beschritten worden? Diese Frage steht seit Jahren unbeantwortet im Raum.

Wie begegnet man all dem, was immer öfter berechtigte Wut und Zorn bei oft jahrelang nichtsahnenden und dann schwer enttäuschten Eltern auslöst, bei Unternehmern, die kaum noch schulisch entsprechend vorbereitete Lehrlinge finden, bei Universitäten, die ressourcenintensive Nachholkurse führen dürfen?

Würde man jenes Best Practice, das heute in Österreich schon an vielen Schulen größtenteils ohne ausreichende gesetzliche Grundlage umgesetzt und daher teils versteckt wird, plus Erfolgscharakteristika aus dem skandinavischen, angloamerikanischen, konfuzianischen und jüdischem Kulturraum in traditions- und mentalitätssensiblen Adaptionen in unser Schulsystem einbringen, könnte Österreichs Schule tatsächlich die beste der Welt sein.

Die Voraussetzungen dafür wären denkbar gut: ein kleines, überschaubares, zentral gelegenes Land, jahrelang die zweithöchsten Bildungsausgaben in der EU - aber eben teils extrem traurige, nicht verantwortbare Leistungen und Ergebnisse. Österreichs Lehrer sind weder dümmer noch fauler als jene in erfolgreichen Ländern. Unser System wurde bloß vor 250 Jahren für das Geheimdienst-, Staatssicherheits- und Spitzelwesen erdacht und ist überfrachtet und überlastet mit Bürokratie, deren Sinn nicht einmal deren Designer plausibel darstellen können.

Dieses System missachtet, dass das Wichtige in der Schule der direkte Dienst am Menschen - nämlich der Unterricht an sich - ist, der heute durch das System behindert wird. Eine Folge ist, dass in den Schulen von Scholé kaum eine Spur vorhanden ist außer in kreativen, oft bewusst versteckten Schutzräumen, die wegen ihres illegalen Status naturgemäß keine Verbreitung erfahren.

Der neuseeländische Erziehungswissenschafter John Hattie hat eindrucksvoll nachgewiesen, dass die einzelne Lehrperson der zentrale Erfolgsfaktor für das Gelingen von Schule ist. Dort, wo Lehrpersonen hilfreich, positiv und stark wirken können, gelingt es, durch menschenzugewandtes Unterrichten Schulen zu echten Schutzräumen für die Kinder zu machen, in denen sich tatsächlich Scholé - produktive Ruhe und Muße - und gute Lernergebnisse einstellen. Arbeiten wir an einer Schule, in die alle - Schüler, Lehrer Eltern, Direktoren - Tag für Tag gerne hineingehen, zum Nutzen aller Menschen in Österreich.

Der fünfjährige Liam wurde gefragt, welchen Beruf seine Großmutter ausübt. Er dachte nach und meinte dann: "Sie ist . . . Lehrerin. Kinderbeschützerin."