Erringt am Sonntag in Frankreich Françoise Hollande die Präsidentschaft, dürften Europas sozialistische Parteien ein gutes Stück nach links rücken.
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Französische Politiker greifen bekanntlich bei öffentlichen Auftritten ganz gerne tief in die Pathos-Kiste, vor allem kurz vor wichtigen Wahlen. Und trotzdem hat François Hollande, sozialistischer Kandidat bei der Präsidentschaftswahl, nicht sehr übertrieben, als er den Franzosen unlängst mit dramatischem Timbre in der Stimme zurief: "Ihre Stimme wird für lange Zeit die Orientierung Europas bestimmen."
Zwar ist Hollande im Großen und Ganzen ein genauso staatsfixierter Etatist wie sein Gegner Nikolas Sarkozy (und gefühlte 100 Prozent aller anderen Franzosen) und wird insofern keinen wirklich dramatischen Politikwechsel in Paris herbeiführen; durchaus denkbar ist sogar, dass er allzu abenteuerliche Wahlversprechen wie die Senkung des Pensionsantrittsalters nach gewonnener Wahl diskret entsorgen wird.
Die "Orientierung Europas verändern" könnte ein allfälliger Sieg Hollandes aber vor allem, weil er auf Europas sozialdemokratische Parteien, allen voran die deutsche SPD, einigen Einfluss haben dürfte.
Noch dominiert ja in den meisten sozialdemokratischen Parteien in der EU jener Geist des technokratischen Pragmatismus, der in den 1990er Jahren durch Parteichefs wie Gerhard Schröder, Viktor Klima und Tony Blair personifiziert war.
Man nannte sie damals, einmal ironisch, dann wieder respektvoll, die "neuen Roten", und neu war an ihnen vor allem, dass sie kaum Berührungsängste gegenüber Privatisierungen, Wettbewerb und Marktwirtschaft kannten, ganz im Gegensatz zur traditionellen Sozialdemokratie der Nachkriegszeit.
Mit einem Wahlsieg Hollandes wäre die Zeit der "neuen Roten" und ihrer Epigonen wohl endgültig Geschichte. Der Mann steht für traditionelles sozialistisches Gedankengut aus dem 20. Jahrhundert: Spitzensteuersatz 75 Prozent, zum Beispiel. "Ich bin kein gemäßigter Sozialist, auch nicht mäßig sozialistisch - ich bin einfach Sozialist", meint er selbst. Das würde wohl kein führender Politiker von SPÖ oder SPD so formulieren - noch.
Beweist Hollande aber, dass man damit besser als mit dem technokratischen Pragmatismus der ganz schön gealterten Generation der "neuen Roten" Wahlen gewinnen kann, wird daraus wohl nicht nur die deutsche SPD die naheliegenden Schlüsse ziehen. Dann werden, jedenfalls im herkömmlichen politischen Koordinatensystem, die sozialdemokratischen Parteien ein kräftiges Stück nach links rücken.
Die politische Großwetterlage begünstigt dergleichen ungemein. Halb Europa murrt über den vermeintlichen "Sparfimmel" der hochverschuldeten Staaten; das Bedürfnis, wieder weiter wie bisher Wohltaten auf Kosten der nächsten Generationen verschmausen zu können, ist weit verbreitet, nicht nur in der Sozialdemokratie.
Indem Hollande erklärt, die erst jüngst beschlossenen europäischen Sparzwänge so nicht akzeptieren zu wollen, dockt er ja auch genau an diese Befindlichkeit an. Wird das nach einem Wahltriumph des französischen Sozialisten zum Leitmotiv der anderen europäischen Sozialdemokratien, dann stehen den Staaten der Europäischen Union sehr interessante Zeiten bevor.
ortner@wienerzeitung.at