Die Frauen hätten keine Reue gezeigt, | begründet die Richterin das Urteil.
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Moskau. (n-ost) Als die Richterin Marina Syrowa am Freitag um kurz nach 15 Uhr mit der Urteilsverkündung beginnt, kann man von der Straße die Rufe "Pasor, Pasor" hören. "Schande", schimpfen die mehreren hundert Demonstranten, die sich hinter den Absperrgittern drängen, als ein Polizeibus davonfährt: Darin mehrere Dutzend junge Pussy-Riot-Unterstützer, die die Polizei kurz zuvor festgenommen hatte.
Die drei jungen Frauen stehen in ihrem Glaskäfig und lächeln trotz der Handschellen an den Händen selbstbewusst. Die braunhaarige Nadjeschda Tolokonnikowa, inzwischen zu einer weltweiten Ikone des Widerstands gegen Wladimir Putin geworden, trägt ihr blaues T-Shirt mit der Aufschrift "No pasarán" ("sie kommen nicht durch") und einer gelben geballten Faust neben der Aufschrift. Die drei lächeln auch noch, als nach wenigen Minuten klar wird, dass die Richterin die jungen Frauen nicht freisprechen wird: Pussy Riot hätte in einem religiösen Gebäude "unter Beteiligung einer großen Gruppe gläubiger Bürger provokative und beleidigende Taten" ausgeführt. Damit hätten sie "den Stellenwert des orthodoxen Glaubens angegriffen", ihr Motiv sei "religiöser Hass" gewesen. Zwei Jahre müssen sie deshalb hinter Gitter.
Das Spektakel, das mit der Verhaftung von Nadjeschda Tolokonnikowa, Jekaterina Samuzewitsch und Maria Aljochina im März dieses Jahres begann und nun mit der Urteilsverkündung sein Ende findet, hat wie kein anderes Gerichtsverfahren der letzten Jahre die russische Gesellschaft gespalten. Auch vor dem Gerichtsgebäude stehen an diesem Tag den hunderten Unterstützern von Pussy Riot wieder Orthodoxe gegenüber, ältere Frauen und junge Männer, die christliche Lieder singen und "Gott mit uns" rufen. Am Morgen hatten die Unterstützer von Pussy Riot in Moskau mehreren Denkmälern bunte Sturmhauben, inzwischen ein Symbol der Punkband, übergezogen. Bilder des Dichters Puschkin und des Wissenschaftlers Lomonossow mit Masken über den Köpfen machen am Freitag im russischen Internet die Runde. In Kiew sägten Mitglieder der Gruppe "Femen" als Zeichen der Unterstützung sogar ein hölzernes Kreuz im Stadtzentrum ab.
Alles hatte mit dem einminütigen Auftritt in der Moskauer Christ-Erlöser-Kathedrale am 21. Februar begonnen: Fünf junge Frauen in bunten Häkelmasken erstürmten da den Altar des prächtigen Gotteshauses im Zentrum Moskaus und sangen ihr "Punkgebet": "Muttergottes, vertreibe Putin." Der später zu einem millionenfach angeklickten Videoclip verarbeitete Auftritt war nach Darstellung der Frauen ein Protest gegen die immer enger werdende Verzahnung von orthodoxer Kirche und russischem Staat. Die Staatsanwaltschaft dagegen erkannte einen Fall von Rowdytum und warf den jungen Frauen als Motiv religiösen Hass vor.
Fünf Monate verbringen die jungen Frauen, zwei von ihnen Mütter von kleinen Kindern, in Untersuchungshaft. Am 30. Juli beginnt endlich der Prozess. Die Angeklagten bitten um Entschuldigung, sollten sie jemandes religiöse Gefühle verletzt haben, beteuern aber, dass die Aktion politisch gewesen sei. Der Staatsanwalt dagegen versucht zu beweisen, dass es einziges Ziel der jungen Frauen gewesen sei, die religiösen Gefühle der gläubigen Menschen zu verletzen. Vor Gericht treten mehr als ein Dutzend "Geschädigte" auf: Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes der Kathedrale und Kerzenverkäuferinnen beschwören mit zitternder Stimme, welchen moralischen Schaden sie durch die Gotteslästerung der jungen Frauen erlitten haben wollen.
Die Welt schaut zu
International wird der Kreml für das Verfahren gegen die jungen Frauen heftig kritisiert: Bei Konzerten in Moskau solidarisierten sich Madonna sowie die Sänger der Gruppen Red Hot Chilli Peppers und Faith no More mit den Frauen. In Deutschland, den USA und einer Reihe anderer Länder bildeten sich Gruppen, die mit Protestaktionen Solidarität mit den Inhaftierten demonstrierten. Selbst der deutsche Außenminister Guido Westerwelle erklärte am Dienstag, dass er den Prozess um die Punkband "sehr aufmerksam" verfolge, und rief Russland dazu auf, die Freiheit der Kunst zu schützen.
In Russland selbst hat allerdings die staatliche Propagandamaschine die öffentliche Meinung geprägt: Direkt nach der Inhaftierung der jungen Frauen folgte eine hetzerische Kampagne im Staatsfernsehen, in der die jungen Frauen als von Dämonen besessen oder von dunklen Hintermännern gesteuert dargestellt wurden. Der politische Kontext des Punkgebetes wurde völlig ausgeklammert, im Vordergrund stand die angebliche Gotteslästerung. Die Berichterstattung über den Prozess dagegen ist allerdings relativ nüchtern und knapp. Eine am Freitag veröffentlichte Lewada-Umfrage bewies den Erfolg der staatlichen Medienstrategie: 44 Prozent der Befragten bewerteten den Prozess als objektiv, nur 17 Prozent sprachen dem Gericht ihr Misstrauen aus. 33 Prozent der Russen halten eine Strafe von zwei bis sieben Jahren für gerechtfertigt. Nach Meinung der Lewada-Soziologin Natalja Sorkaja zeigt das den tiefen Riss, der durch die russische Gesellschaft geht und der sich durch den Prozess nur noch verstärkt hat: Auf der einen Seite stehe die liberale, weltoffene Gesellschaft der Großstädte, auf der anderen die ländliche Gesellschaft, deren Meinung leicht durch das Staatsfernsehen zu manipulieren sei.
Unklar ist weiterhin, was mit den kleinen Kindern von Tolokonnikowa und Aljochina passiert. Während die Anwälte sich um den Sohn von Aljochina weniger Sorgen machen, weil ihr Lebenspartner nicht an politischen Aktionen teilnimmt, ist das Schicksal der Tochter von Tolokonnikowa ungewiss. Denn Pjotr Wersilow, ihr Ehemann, ist seit Jahren ein bekannter Politaktivist. Für alle Fälle haben die Anwälte vor wenigen Tagen die Vormundschaft für die Kinder beantragt.
Jagdsaison im Kreml
Das Gerichtsverfahren gegen Pussy Riot ist derweil nicht das einzige Verfahren gegen Oppositionelle. Dem Blogger und Anwalt Alexej Nawalny wird von der Staatsanwaltschaft vorgeworfen, im Jahr 2009 als Berater des Gouverneurs des Gebietes Kirow ein staatliches Holzunternehmen um 1,3 Millionen Rubel (32.500 Euro) geprellt zu haben. Dafür drohen ihm bis zu zehn Jahre Haft. In Untersuchungshaft genommen wurde Nawalny, der in den vergangenen Jahren mit Antikorruptionskampagnen zu einem der populärsten Anführer der Opposition geworden ist, bisher nicht. Aber ihm wurde bereits untersagt, Moskau ohne Einwilligung der Behörden zu verlassen.
In U-Haft warten dagegen elf junge Russen auf ihren Prozess, die am 6. Mai an Zusammenstößen mit der Polizei während einer Demonstration im Zentrum Moskaus beteiligt gewesen sein sollen. Ihnen und fünf weiteren Angeklagten, die teilweise unter Hausarrest stehen, drohen bei einer Verurteilung langjährige Haftstrafen. Ermittelt wird seit kurzem auch gegen den für seine unverblümte Kritik an der Kremlpolitik bekannten Oppositionspolitiker Gennadi Gudkow - wegen angeblicher Beteiligung an illegalen Geschäftsaktivitäten im Ausland.
Die ersten 100 Tage der dritten Präsidentschaft Putins sind damit geprägt von Initiativen gegen die Zivilgesellschaft. Darin reiht sich das verschärfte Demonstrationsgesetz als auch das im Eilverfahren von der Staatsduma verabschiedete Gesetz ein, das Nichtregierungsorganisationen, die zum Teil aus dem Ausland finanziert werden, dazu verpflichtet, in ihren Briefköpfen die Bezeichnung "Ausländische Agenten" zu tragen. Ihre Tätigkeit wird nun zweimal jährlich von der Finanzkontrolle überprüft. Allerdings scheint das "Anziehen der Schrauben" Putins Unterstützung im Volk nicht zu steigern: Das Meinungsforschungsinstitut Lewada veröffentlichte am Freitag eine Umfrage, nach der nur noch 48 Prozent aller Russen Putin positiv sehen. Es ist der bislang schlechteste Umfragewert, im Mai lag sein Rating noch bei 60 Prozent.