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Zwei-Klassen-Medizin - das System versagt

Von Ernest G. Pichlbauer

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© © Foto: Wilke / Foto Wilke

Auch wenn die Zwei-Klassen-Medizin eine Sauerei ist, reicht es nicht aus, sie einfach so zu benennen und per Gesetz verbieten zu wollen.


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Ein solidarisches Gesundheitssystem sollte regulierend über der Versorgungs- und der Behandlungsebene schweben. Die Versorgung der Menschen mit Behandlungen sollte so allen gleichermaßen zur Verfügung stehen, unabhängig von Vermögen oder - ein leidiges Thema - Beziehungen.

Anders ausgedrückt ist unser Gesundheitssystem, das von Unfreiheiten, Konkurrenzschutz und Planwirtschaft nur so strotzt, so ausgerichtet, dass marktwirtschaftliche Mechanismen nicht direkt beim Patienten ankommen. Und das ist im Grunde auch gut, einfach deswegen, weil es eben evident ist, dass Gesundheitssysteme, die auf Marktmechanismen auf der Behandlungsebene setzen, schlechter abschneiden als jene, die Wettbewerb höchstens bis in die Versorgungsebene vordringen lassen.

Die Aufgabe des Systems ist es, die Rahmenbedingungen so herzustellen, dass für alle die richtige Maßnahme zur rechten Zeit und am rechten Ort in der richtigen Qualität erbracht wird. Nur so kann für jedes Individuum, als auch für die Solidargemeinschaft ein Mehrwert (ein Mehr an Gesundheit pro eingesetzter Ressource) erzeugt werden.

Damit ist jedoch eine schwere Aufgabe verbunden, nämlich die Definitionen, was denn nun richtig ist. Nur mit diesen Definitionen - und die müssen ehrlich sein - kann die Ressourcenverteilung sinnvoll umgesetzt werden. Diese Allokation der Mittel, die im Markt über Preisfindung erfolgt, ist hier also vom System zu lösen. Wenn sich das System davor drückt, dann wird in das entstehende Vakuum automatisch ein Preissystem eindringen - es ist naiv zu glauben, dass man Markt und Wettbewerb einfach von oben herab verbieten kann.

Wir haben den Manchester-Kapitalismus jetzt zweimal erlebt (erst im 19. Jahrhundert, jetzt im Rahmen des internationalen Finanzmarkts); bereits nach dem ersten Mal, vor gut hundert Jahren, wurde die Soziale Marktwirtschaft - auch Neoliberalismus genannt - als Gegenthese entwickelt, die den urwüchsigen Markt als bösartig ausweist und daher für deren Regulierung (nicht Abschaffung, das geht nicht) durch den Staat eintritt. Je weniger Markt erwünscht ist, desto strikteren Regeln muss er unterworfen werden.

Wenn nun jedoch bereits 80 Prozent der Bevölkerung davon ausgehen, man werde nur dann optimal versorgt, wenn man eine Klasse-(Zusatz-)Versicherung habe, zeigt das, dass das System, auch wenn die Politik anderes behauptet, nicht mehr in der Lage ist, die Allokationsfrage zu lösen. Daher sucht sich die optimale Versorgung, selbst wenn sie nur so empfunden wird, über private Versicherungen wieder einen Preis. Und weil die Politik das nicht wahrhaben will, werden Marktmechanismen aktiv, die dann unreguliert eintreten.

Entscheidungsträger im System können nicht einfach behaupten, alles sei gut. Sie können auch nicht einfach mehr Geld verlangen, ohne zu sagen wieso, weshalb und mit welchem Ziel. Sie können sich nicht hinter der allgemeinen Klausel "alle kriegen alles und das gratis" verstecken. Sie müssen ihren Mitgliedern immer und immer wieder beweisen, dass es für jeden Einzelnen vernünftig ist, "sein Geld" dem System und nicht dem Markt anzuvertrauen. Erst wenn dieser Beweis fehlt, werden System und Finanzierung in Frage gestellt.

Weil es seit Jahren in der Reformdiskussion nur ums Geld geht, ist der Umkehrschluss, dass Beweise für das Funktionieren unseres Systems fehlen, zulässig. Und daraus folgt, dass der Markt dort wieder eintritt, wo eben das System, die Politik, versagt.

Dr. Ernest G. Pichlbauer ist unabhängiger Gesundheitsökonom und Publizist.