Einheitsmärchen zum Jahrestag des Mauerfalls. | Berlin. Zwei Marionetten haben tagelang Berlin verzaubert und der zentralen Einheitsfeier im Saarland die Schau gestohlen. So sehr sich Saarbrücken auch mühte, die zentrale Feier zum Tag der deutschen Einheit so würdig und zugleich volkstümlich wie möglich auszurichten, konnte es nicht mit der Magie zweier gigantischer Märchenpuppen konkurrieren.
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Es war einmal, vor langer Zeit. Da war Berlin ein Sumpfgebiet. In einer Hütte lebte die Kleine Riesin glücklich zusammen mit ihrem Onkel, dem Großen Riesen. Eines Tages rissen Meeresungeheuer die Stadt entzwei. Eine Mauer trennte fortan den Großen Riesen von seiner Nichte. Er war sehr zornig, stürzte sich in den Fluss, durchwanderte die Tiefen der Ozeane und suchte den schlafenden Geysir.
Nach jahrelanger Suche als Tiefseetaucher auf dem Meeresgrund fand der Große Riese das Ungeheuer. Er schleppte es unter die Mauer der Stadt und weckte ihn. Die Erde bebte - die Mauer fiel.
Durch die Wucht des Mauerfalls setzt ein Sturmwind ein. Das Boot der Kleinen Riesin reißt sich los, nimmt sie mit auf eine wilde Fahrt. Quer durch den Osten, mitten durch die Zeit. Bis sie in der Stadt strandet - und erwacht. Da entdeckt sie einen Postsack mit Briefen, die nie zugestellt wurden. Und beschließt, sich auf die Suche nach ihrem Onkel, dem Großen Riesen, zu machen.
Nachdem er die Mauer zum Einsturz gebracht hat, taucht der Große Riese aus den Fluten des Weltmeeres auf. Und macht sich auf die Suche, bis er die Kleine Riesin endlich wiedersieht. Nach langer Zeit sind Onkel und Nichte wieder vereint.
Dieses "Einheitsmärchen" zum 19. Jahrestag der deutschen Wiedervereinigung wurde von der französischen Straßentheater-Gruppe "Royal de Luxe" unter der Leitung ihres Gründers Jean Luc Courcoult in Szene gesetzt, in Kooperation mit der Österreicherin Brigitte Fürle, die seitens der Berliner Festwochen für das Mega-Spektakel verantwortlich zeichnete.
Halb Berlin war drei Tage lang auf den Beinen, um die beiden Puppen auf ihrem Weg durch West und Ost zu begleiten. Die klobigen technischen Monster aus Stahl und Holz, an Spezialkränen befestigt und von drei Dutzend rot livrierter "Liliputaner" mit Seilzügen und Stäben in Bewegung gesetzt, eroberten die Herzen der Staunenden im Nu.
Mehrere hundert Mitarbeiter, davon gut zweihundert freiwillige Helfer aus Berlin vollbrachten die logistische und künstlerische Meisterleistung, ein gigantisches Spektakel spielerisch leicht und mitunter anrührend und herzergreifend zu gestalten. Vor dem Brandenburger Tor, wo sich Nichte und Onkel in die Arme sanken, war so manche Träne zu sehen und so manches Schluchzen zu hören.
Das Publikum, das nach der Reichstagsverhüllung durch Christo kein solches friedliches Spektakulum mehr erlebt hatte, war sich in seinem Urteil einig: Die Stadt müsste öfter Bühne werden. In den drei Tagen des "Einheitsmärchens" ist mehr für die innere Einheit geschehen als in den zwei Jahrzehnten davor.