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"Zwei Sprachen sind ein Geschenk"

Von Stefan Beig

Politik

"Wir unterschätzen, was alles ohne Migration verschwinden würde."


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"Wiener Zeitung": Menschen mit Migrationshintergrund sind zugereist oder haben Eltern, die zugewandert sind. Der Begriff ist sehr weit. Ist er auch sinnvoll?

Kenan Güngör: Mir geht es nicht darum, ob man den Begriff "Migrationshintergrund" überhaupt verwendet, sondern in welchem Ausmaß. Für "affirmative action" und das Aufzeigen sozialer Ungleichheit macht die Kategorie Sinn. Doch wenn sie zu sehr im Vordergrund steht, wie es zurzeit der Fall ist, verdeckt sie zum Teil mehr, als dass sie aufdeckt. Der Terminus kann dann auch desintegrieren, indem er zum Stigma wird. Er verkommt zu einer vermeintlich alles erklärenden und somit nichts mehr wirklich erklärenden Variablen.

Als Erstunterscheidung ist der Begriff sinnvoll, aber wir verwenden ihn dauernd als Letztunterscheidung. "Migrationshintergrund" ist ein Signal-Indikator, der für sich alleine wenig aussagt. Die Lebenswelten und Milieus der Zugewanderten sind dafür zu heterogen. Erst in der Kombination mit weiteren Variablen kann er Aufschlüsse geben.

Was ist die Alternative?

Der Begriff weist auf eine Migrationserfahrung hin, doch die wird bei der zweiten Generation eindeutig überbewertet und wirkt zum Teil verzerrend. Wichtiger als der Umstand, dass die Eltern irgendwann einmal zugereist sind, finde ich die damit einhergehende und länger anhaltende Transnationalität, die vielmehr die Lebensrealität der Zuwanderer prägt. Sie ist eine Schlüsselunterscheidung und verweist auch auf Potenziale: Menschen mit internationalem Background haben über ihre Eltern und den Freundeskreis eine größere Internationalität, die auch für ihre Identität entscheidend ist. Die zweite Generation hat keine Migrationserfahrung mehr. Sie ist eher Vorreiter einer zunehmenden weltweiten Globalisierung. Das zeigt sich etwa darin, dass schon jetzt der Anteil an Transferzahlungen in die Herkunftsländer höher ist als die weltweite Entwicklungshilfe.

Welche Potenziale bringen Menschen mit internationalem Background mit?

Dass Kinder mit zwei, drei Sprachen aufwachsen, ist ein Geschenk, das man quasi in die Wiege gelegt bekommt und das unbedingt gepflegt werden sollte. Empirisch betrachtet wuchs die Wichtigkeit der Balkan-Sprachen nach dem Mauer-Fall für Österreich. Gleiches gilt für Türkisch, da Österreich in der Türkei größter Investor ist. Französisch hat nach der Ost-Öffnung für Österreich wohl an Wert verloren, nicht aber für Deutschland wegen der deutsch-französischen Linie.

Gibt es noch andere Potenziale außer Mehrsprachigkeit und Bikulturalität?

Die Lebensperspektiven sind anders. Viele Untersuchungen weltweit zeigen: Menschen, die das Wagnis der Migration in eine unbekannte Welt auf sich nehmen, sind unternehmenslustiger, risikofreudiger und eher bereit, mit den damit einhergehenden Schwierigkeiten umzugehen. Menschen der sozialen Unterschicht können im Hinblick auf ihre Erwartungen und Aspirationen sehr verschieden sein, je nachdem, ob sie in einer Aufwärts- oder Abwärtsperspektive stehen. Ihre Selbstplatzierung sieht anders aus. Zugewanderte sagen: Wenn ich ankomme, wird es schwierig sein. Ich fange irgendwo bei null an. Die Ungleichheit wird weniger als Ungerechtigkeit wahrgenommen, sondern als Ausgangslage, von der an es bestenfalls nur mehr aufwärts gehen kann. Sie sind nicht auf Stillstand ausgerichtet. Anders ist die Dynamik bei Einheimischen, die den Aufstieg nicht geschafft haben oder sich als abwärtsgefährdet sehen. Ungleichheit wird dann als Ungerechtigkeit empfunden, wenn sie mit Unfairness einhergeht.

Es gibt tolle Erfolgsgeschichten, doch es klappt nicht immer. . .

Natürlich, das ist im Einzelfall sehr verschieden. Eine weitere Frage ist: Schafft es eine Gesellschaft, diese Dynamik positiv zu nützen? Signalisieren wir den Menschen "Es kommt auf dich an, versuche es, und wir unterstützen dich dabei", oder sagen wir nur: "Du kannst nichts dafür und wir müssen für dich versorgen"? Eine entsprechende Willkommenskultur würde uns helfen. Zurzeit nützen wir das Dynamisierungspotenzial noch nicht hinreichend.

Hat hier die politische Linke bisher zu wenig getan?

Ein Teil der Linken in Europa möchte sich als Beschützerin der Migranten wahrnehmen, die für sie zum Ersatzproletariat geworden sind. Entstanden ist diese Haltung in einer Gesellschaft mit stark industrieller Prägung und fixen Arbeitsunterschieden. Doch mittlerweile hat sich die Gesellschaft verändert und Zugewanderte sind zu heterogen in ihren Vorstellungen, Werten und Lebenswelten, als dass sie sich politisch von einer einzigen Gruppe abdecken oder protegieren lassen.

Internationalität charakterisiert heute die Gesellschaft als Ganze.

Wir haben schon längst eine Binnen-Internationalität. Überall wird die Globalisierung erlebt, auch ohne persönlich erlebte Migration. Wir unterschätzen, was alles ohne Migration verschwinden würde, etwa in Europas Gastronomie. Man denke nur an chinesische oder indische Restaurants, und natürlich auch an Pasta, die wir bereits zu Hause kochen. Das ist ein Teil unserer Lebenswelt. Es wäre ein radikaler Schnitt, darauf zu verzichten. Auch FPÖ-Wähler wollen das sicher nicht.

Aber Spannungen entstehen. Könnte man damit kreativ umgehen?

Es gibt Abstoßungsreaktionen und Lernmomente - auf allen Seiten. Eine entscheidende Rolle spielt der Kulturbetrieb. Ein großer Teil der Kunst wird durch die spielerische Auseinandersetzung mit Verschiedenem neue Realitäten entwickeln. Auch neue Erzählformen in Literatur und Film werden entstehen, warum nicht auch eine buddhistische Geschichte in Wien? Es gibt einen neuen Erfahrungshorizont von Welt, mehr Transnationalität, auch in Musikgruppen. Der Cross-Culture-Sektor wächst. Wenn verschiedene Erfahrungshintergründe zusammentreffen, entstehen neue Geschichten mit neuer Kombinatorik.

Ich denke an den Film "Ein Augenblick Freiheit" des Regisseurs Arash T. Riahi, der die Schicksale von drei iranischen Flüchtlingsgruppen behandelt. Sehr gut fängt das auch "Babel" des mexikanischen Filmregisseurs Alejandro González Iñárritu ein - das ist eine Art moderne Parabel auf den biblischen Turmbau zu Babel. Der Pianist und Komponist Fazil Say aus der Türkei hat klassische Musik ganz eigen interpretiert.

Kenan Güngör ist regelmäßig Interviewpartner zu Integrationsthemen.