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Die ungewöhnliche Masse an britischen Fahnen in den loyalistischen Stadtvierteln Belfasts deutete schon vor dem Beginn der protestantischen Aufmärsche und den ersten Krawallen auf einen besonders konfliktgeladenen Juli hin. Die Gesellschaft ist nach wie vor gespalten, auch wenn man offiziell eine neue Politik der Toleranz propagiert. Die Zeit drängt, denn die Chancen, dass Nordirland innerhalb der nächsten zwanzig Jahre an die Republik Irland angeschlossen wird, sind groß.
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Timothy ist acht Jahre alt und geht in eine der wenigen Volksschulen in Nordirland, die von katholischen und protestantischen Kindern gemeinsam besucht werden. Ich frage ihn nach seiner Nationalität. Nach einigem Nachdenken flüstert er mit einem unsicheren Blick auf seine Lehrerin "Nordirisch?". Ein anderer hätte vielleicht "Irisch", "Britisch" oder "Nordirisch-Britisch" geantwortet - je nach politischer Gesinnung und kultureller Vergangenheit seines Elternhauses. Politisch ist Nordirland ein Teil des "Vereinigten Königreichs von Großbritannien und Nordirland", geographisch gehört es zu Irland.
Darüber lässt sich trefflich streiten. Der hartnäckige Unionist Trevor Johnston ist mit seinem konservativen Wertesystem und in seiner Verehrung des Königshauses britischer als die Queen. Für ihn sind die Britischen Inseln das unteilbare Ganze, aus dem sich die Republik Irland nach jahrhundertelangen Kämpfen gewaltsam absentiert hat.
Der katholische Nationalist Sean O'Brien träumt dagegen von der Einheit der irischen Insel, deren Bevölkerung sich in Sprache, Abstammung und Kultur wesentlich von den Briten unterscheidet. Er würde sich niemals mit einem britischen Pass sehen lassen und holt sich lieber seinen irischen Pass aus Dublin.
Völlig legal. Das Gesetz über die Nationalität und Staatsbürgerschaft 1956 der Republik Irland bezieht ganz selbstverständlich auch die sechs nordirischen Grafschaften in das Staatsgebiet Irland mit ein, die eben noch von einer fremden Macht, nämlich Großbritannien, besetzt sind. Demnach hat auch jeder in Nordirland geborene das Recht auf die irische Staatsbürgerschaft - wenn er sie haben will. Wenn er sie nicht will, ist er eben Brite.
Das könnte theoretisch ganz gemütlich abgehen. Wenn es nicht auf beiden Seiten diesen über Jahrhunderte hinweg kultivierten Hass auf die jeweils Anderen gäbe.
Zweierlei Unterricht
Die Polarisierung der Gesellschaft fängt hier schon bei der Geburt an. Nennt jemand sein Neugeborenes Maire, Seamus oder Malachy, bekennt er Farbe. Nämlich Grün-Weiß-Orange, die irische Trikolore. Schickt er dieses Kind dann noch in den irisch-sprachigen Kindergarten, liegt seine nationale Gesinnung auf der Hand. Spätestens mit der Wahl der Volksschule muss sich hier dann jeder - auch der zugewanderte Inder oder Deutsche - für eine Seite entscheiden.
Die Schulerziehung in Nordirland läuft nämlich immer noch mit wenigen Ausnahmen streng religionsgetrennt ab. Katholische Kinder gehen in katholische Schulen und lernen hier die irische Geschichte nach irischer Auffassung. Und protestantische Kinder besuchen protestantische Schulen, wo vor allem britische Geschichte gelehrt wird, in der Irland nur eine Nebenrolle spielt.
Und die Geschichte wird in der Diskussion um Nordirland sehr oft bemüht. Kelten gegen Normannen, Iren gegen Engländer, Katholiken gegen Protestanten, Nationalisten gegen Loyalisten. Unterschiedliche Namen für zwei Kulturen, die nicht zusammenpassen.
Der Konflikt begann im zwölften Jahrhundert, als England seinen territorialen Anspruch auf Irland auszuweiten versuchte. Und endete nach hartnäckigen Aufständen der nationalistischen Rebellen mit der Ausrufung der Irischen Republik 1921.
Die nordöstliche Ecke der Insel allerdings war im Rahmen der Kolonisierung zum größten Teil von englischen und schottischen Protestanten besiedelt worden. Sie hatten sich schon längst mit Waffen aus Europa versorgt und drohten nun mit Terror, sollten sie unter Dublins republikanische Regierung fallen. Schließlich erhielt die Region das Recht, demokratisch für oder gegen den britischen Verband abzustimmen. Das Resultat war die Staatsgrenze quer durch die irische Insel - bis heute Grund für blutige Auseinandersetzungen mit den katholischen Nationalisten. Sie haben den Gedanken eines vereinten Irlands längst nicht aufgegeben.
Zwei Gesellschaften, die nicht zusammenpassen
Das über Jahrhunderte entstandene Misstrauen zwischen den beiden Kulturen ist nach wie vor immens. Was da nun Vorurteil ist, und was tatsächlich kulturelle Unterschiede sind, ist oft schwer auseinander zu halten. In Nordirland gilt der typische Protestant als fleißig, prinzipientreu, ehrlich, stur, konservativ und arrogant, der typische Katholik dagegen als gemütlich, tolerant, ungebildet, faul und hinterlistig.
Nicht der Glaube ist dabei der Grund für Auseinandersetzungen, Religion ist vielmehr ein eindeutiges Zeichen der Zugehörigkeit. Genauso wie der Name. Ein McErlain, O'Neill oder Murphy weckt sofort Mißtrauen in einem Williamson, Armstrong oder Hamilton - und umgekehrt.
Die Wohnadresse gibt Auskunft über Religion, Klassenzugehörigkeit und kulturelle Herkunft. So ist West-Belfast eine Hochburg der nationalistischen Republikaner, während in Ost-Belfast die protestantischen Loyalisten hausen. Über jegliche Konfliktbereitschaft erhaben residiert die obere Mittelschicht unbehelligt in ihren Villen zwischen Malone Road und Lisburn Road. Hier leben übrigens Katholiken und Protestanten problemlos miteinander und diskutieren beim sommerlichen Grillfest in ihren weitläufigen Gärten die Vorzüge der diversen Eliteschulen. Die Hauspreise hier sind so horrend im Vergleich zu den religionsgetrennten Bezirken, dass sich mit Sicherheit kein gewöhnlicher Arbeiter hier niederlassen kann.
Eine Frage der Klasse
Denn das nordirische Problem ist unter anderem auch ein Klassenproblem. Die Vorurteile existieren zwar quer durch die ganze Gesellschaft, aber ausgelebt werden sie vor allem in der Arbeiterklasse.
70 Prozent der staatlich geförderten Wohnsiedlungen sind religionsgetrennt. Und nur hier gibt es die ständigen Unruhen. In diesen winzigen Reihenhäuschen mit ihren schäbigen Hinterhöfen leben hauptsächlich Arbeitslose und schlecht bezahlte Arbeiter, die auf staatliche Unterstützung angewiesen sind. Sie erklären sich ihre miserablen Lebensumstände mit der Existenz der "Anderen". Katholiken fühlen sich als diskriminierte "Menschen zweiter Klasse", Protestanten fürchten die Bedrohung durch die wachsende katholische Gemeinschaft.
Ihre Kinder gehen in die lokale Schule - je nach Bezirk rein katholisch oder rein protestantisch - und haben keine Chance, mit Kindern der anderen Religionsgemeinschaft zusammenzutreffen. Ehen zwischen Katholiken und Protestanten sind immer noch für viele unvorstellbar, nur zehn Prozent aller Ehen sind gemischt und diese sind hauptsächlich im Mittelstand zu finden.
Farben zur Abschreckung
Beide Lager kennzeichnen ihren Bezirk mit Fahnen, Graffiti und bemalten Gehsteigkanten - rot-blau-weiß die Loyalisten und grün-weiß-orange die Nationalisten. Die Farben und Gemälde an Mauern und Hauswänden sagen eindeutig: Das ist unser Revier. Wenn du nicht zu uns gehörst, dann verschwinde! Wer sich trotzdem traut, als einer von der Gegenseite hier einzuziehen, wird bald mit gezielten kleinen Terroranschlägen überredet, sein Haus zu verlassen. Das geht sogar soweit, dass katholische Kinder, deren Schulweg durch eine loyalistische Siedlung führt, von Protestanten beschimpft und bedroht werden.
Die politischen Vertreter beider Seiten bemühen sich seit dem Karfreitags-Abkommen um einen Dialog. Die gegnerischen Parteien der nationalistischen Sinn Fein und der pro-britischen Ulster Unionists stehen oft Schulter an Schulter in ihrer Suche nach einer gewaltlosen Lösung. Sie bringen sogar die diversen Terrororganisationen beider Seiten zu vorübergehenden Waffenstillständen. Aber solange der kleine William den kleinen Seamus verprügelt, weil er katholisch ist und der kleine Sean mit seinen Kumpels zum Zeitvertreib Ziegel von der Hausmauer aus auf vorbeifahrende Polizeiautos wirft, ist der endgültige Friede nicht in Sicht.
Wird es je Frieden geben?
Erst seit 1987 nimmt die britische Regierung dieses Problem innerhalb der nordirischen Gesellschaft in Angriff. Inzwischen setzen sich unzählige Organisationen für die Zusammenführung der beiden Religionsgemeinschaften ein. In jedem offiziellen Papier liest man von Gleichheit und Toleranz in Politik, Schulen und am Arbeitsplatz. So ist es seit einigen Jahren verboten, in einem Stellenbewerbungsbogen nach der Religion des Bewerbers zu fragen, um die bisher übliche Bevorzugung eines bestimmten Glaubensbekenntnisses zu verhindern. Der beinahe rein protestantische Polizeiapparat der Royal Ulster Constabulary wurde völlig umgemodelt und muss nun zu 50 Prozent aus Katholiken bestehen.
Und endlich beginnt man auch in den Schulen, bewusst Kinder beider Glaubensbekenntnisse zusammenzuführen. Seit 1989 ist die "Erziehung zum gegenseitigen Verstehen" im Lehrplan aller Schulen verankert. In Ferienprogrammen werden katholische und protestantische Kinder gezielt zum Miteinander erzogen. Wer allerdings seine Kinder dorthin schickt, zählt mit hoher Wahrscheinlichkeit ohnehin nicht zu den Extremisten. Diese nämlich würden nicht im Traum daran denken, bei solchen "gemischten" Aktivitäten mitzumachen.
Vor zwanzig Jahren gründeten Eltern und Lehrer gemeinsam in Belfast die erste Schule, in der Lehrer und Schüler zu ungefähr gleichen Teilen aus Katholiken und Protestanten bestanden. Heute gibt es schon 46 dieser sogenannten Integrationsschulen. Hier sollen Kinder lernen, andere Traditionen und Kulturen zu respektieren, indem sie täglich miteinander leben, spielen und arbeiten.
Gerry Carr vom Nordirischen Komitee für Integrierte Schulbildung ist überzeugt vom Erfolg seiner Arbeit für den Frieden, trotz zahlreicher Angriffe von extremistischen Gruppierungen. "Wir haben mit ständiger Opposition aus dem Lager der DUP (extrem-loyalistische Partei unter Ian Paisley) zu tun. Aber Umfragen bestätigen uns, dass um die 80 Prozent der Bevölkerung die integrierte Schulbildung befürworten."
Dennoch gehen erst fünf Prozent aller Kinder in Nordirland in eine Integrationsschule. Das liegt einerseits am Mangel an genügend gemischten Schulen - im letzten Schuljahr mussten über 1.100 Kinder abgewiesen werden -, andererseits aber auch an ihrem Image. Für den größten Teil der Eltern, besonders in der Mittelklasse, ist der akademische Output einer Schule wichtigstes Kriterium. Eine Integrationsschule aber fragt nicht nach Herkunft, Klasse oder Religion eines Kindes. Damit ist auch ihr Notendurchschnitt nicht so präsentabel.
Die Mehrheit entscheidet
Inzwischen konzentrieren sich Großbritanniens Aktivitäten in Nordirland auf Schadensbegrenzung. Eine Umfrage der englischen Zeitung "Guardian" im August 2001 zeigte, dass nur einer von vier Briten die "letzte britische Kolonie" erhalten möchte. Dagegen hätten 41 Prozent der Briten diese kostenträchtige und problembeladene Provinz gerne schon längst an die irischen "Paddies" abgegeben. Wenn nur endlich eine Mehrheit in Nordirland für den Zusammenschluss mit der Republik stimmen würde. Im Karfreitags-Abkommen von 1998 verpflichten sich die irische und die britische Regierung, die Grenze zwischen Nord und Süd aufzuheben, sobald sich diese Mehrheit findet.
Noch ist es nicht soweit. Die letzte Volkszählung zeigt jedoch, dass bereits jetzt mehr katholische als protestantische Kinder in Nordirlands Schulen sitzen. Prognosen deuten darauf hin, dass innerhalb der nächsten zwanzig Jahre das Verhältnis zwischen Katholiken und Protestanten ausgewogen sein wird, die republikanische Partei der Sinn Fein spricht gar von der Möglichkeit eines geeinten Irland noch vor dem Jahr 2016.
Bis dahin, kann man nur hoffen, hat die Politik der Toleranz genug Früchte getragen. Denn obwohl heute schon 70 Prozent der nordirischen Protestanten mit der Idee eines vereinten Irland leben können, geben die restlichen 30 Prozent zu, die Loslösung von Großbritannien niemals akzeptieren zu wollen. Für sie wäre das der Startschuss für ein neues Kapitel im blutigen Kampf um die Provinz.