Spielraum des Gesetzgebers seit März geschrumpft: Erneute Ausgangsbeschränkungen müssten strengere Prüfung bestehen.
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Die ersten Entscheidungen sind gefallen, die ersten Rechtsfragen geklärt. Beendet ist die juristische Aufarbeitung der Corona-Krise damit aber nicht. Maske und Einreiseregeln lösen noch immer Debatten aus. Weitere Streitthemen könnten sich auch durch eine zweite Corona-Welle ergeben: Steigen die Infektionszahlen stark an, könnten wieder neue, einschneidende Maßnahmen notwendig werden.
Die Ausgangslage stellt sich dabei aber anders dar als noch zu Beginn der Pandemie. Mit dem Lockdown im März wurde österreichweit quasi über Nacht das gesellschaftliche und wirtschaftliche Leben lahmgelegt. Das wäre bei einer zweiten Welle zwar erneut möglich. Der Schritt würde rechtlich nun aber unter einer besonders strengen Prüfung stehen.
War im März nämlich noch vieles über das Coronavirus unbekannt, so gibt es nun mittlerweile knapp 40.000 wissenschaftliche Publikationen zu Covid-19. Diese medizinischen Erkenntnisse müssen bei einem zweiten Lockdown nun berücksichtigt werden. "Je weniger der Gesetzgeber über die Krankheit weiß und je schneller er handeln muss, desto gröber kann er vorgehen", sagt Verfassungsrechtler Karl Stöger. Besitzt er jedoch mehr Wissen über die Krankheit, muss er bei den Maßnahmen differenzieren und - falls möglich - weniger einschneidende Eingriffe wählen.
Das bedeutet für eine mögliche zweite Welle: "Wenn man weiß, dass man nun beispielsweise mit Maskenpflicht und Abstandsregeln auskommt, ist ein vollständiger Lockdown nicht mehr rechtfertigbar", sagt Mathis Fister, Verfassungsrechtler, Rechtsanwalt und Mitglied der "Initiative für Grund- und Freiheitsrechte".
Ausgehverbot möglich
Einig sind sich Stöger und Fister, dass ein zweiter Lockdown samt Ausgangsbeschränkungen bei einer gravierenden Bedrohungslage rechtlich möglich wäre: Daran habe auch das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes Mitte Juli nichts geändert. Das Höchstgericht hielt fest, dass zum Schutz der Gesundheit auch ein allgemeines Ausgangsverbot verordnet werden kann. Nur muss es dafür eine gesetzliche Grundlage geben.
Genau diese Grundlage war bei der Lockdown-Verordnung im März aber nicht vorhanden. Daher erklärte der Verfassungsgerichtshof die Verordnung auch für gesetzwidrig. Der Hintergrund: Das Covid-19-Maßnahmengesetz hatte dem Gesundheitsminister lediglich eingeräumt, Betretungsverbote für bestimmte Orte zu verordnen. In der entsprechenden Verordnung wurde jedoch österreichweit das Betreten des gesamten öffentlichen Raumes verboten. Trotz einiger Ausnahmebestimmungen handle es sich dabei in der Sache um ein "allgemeines Ausgangsverbot", so das Höchstgericht. Und ein "derart umfassendes Verbot" sei nicht durch das Maßnahmengesetz gedeckt.
Eine Überarbeitung des Covid-19-Maßnahmengesetzes wird seitens der türkis-grünen Bundesregierung auch bereits angedacht. Man müsse "handeln für den Fall", dass man breite Ausgangsbeschränkungen brauche, meinte Verfassungsministerin Karoline Edtstadler (ÖVP). Stöger erklärt: "Man könnte ins Maßnahmengesetz schreiben, dass sich eine solche Verordnung auf einzelne, bestimmte Orte, aber eben auch den ganzen öffentlichen Raum beziehen kann - je nach Notwendigkeit der Maßnahme." Damit wäre die Verordnung vom Gesetz gedeckt. Ob die Maßnahmen dann auch sachlich gerechtfertigt und grundrechtskonform sind, ist wiederum eine andere Frage.
Derzeit stehen derart weitreichende Beschränkungen nicht zur Debatte. Stattdessen wird auf differenzierte, kleinflächigere Lösungen gesetzt. Aber auch diese sind umstritten - wie die neue Maskenpflicht. Ein Mund- und Nasenschutz muss in Supermärkten, Banken, Postfilialen und Tankstellen getragen werden. Nicht aber in anderen Geschäften. Manche Verfassungsrechtler halten das für "sachlich nicht gerechtfertigt", ein Verfahren vor dem Verfassungsgerichtshof ist bereits anhängig.
Türkis-Grün begründet die Differenzierung damit, dass Supermärkte und Banken im Gegensatz zu anderen Geschäften von jedermann - also auch Risikogruppen - regelmäßig besucht werden müssen. "Ich schließe nicht aus, dass der Verfassungsgerichtshof diese Regelung akzeptiert", erklärt Fister. Denn immerhin sei das ein schlüssiges Argument, auch wenn es sich in medizinisch-fachlicher Hinsicht erst bewähren müsse.
Eine sachliche Begründung fehlte hingegen etwa bei der Verordnung im April, wonach Geschäfte mit bis zu 400 Quadratmeter und Baumärkte aufsperren können, andere Geschäfte aber nicht. Eine Rechtfertigung dafür konnte das Gesundheitsministerium nicht liefern: Daher wurde die Verordnung Mitte Juli vom Höchstgericht gekippt. "Der Gesetz- und Verordnungsgeber braucht immer ein Narrativ für seine Maßnahme", so Stöger. Wenn er ein solches habe und mit der Maßnahme zumindest einen Teil der Ansteckungsgefahr reduziert werden könne, habe er gute Chancen, dass sie rechtlich halte.
"Klare Maßstäbe fehlen noch"
In nächster Zeit dürften weitere Unklarheiten auftauchen, mit der Öffnung der Schulen im September könnte hier einiges auf die Gerichte zurollen. Zuletzt fragten Juristen in der "Presse" etwa, ob nicht Ansprüche wegen Amtshaftung und strafrechtliche Folgen drohen, wenn sich Lehrer wegen fehlender Schutzmaßnahmen in den Schulen anstecken.
Fister ist eher zurückhaltend: "Amtshaftung ist prinzipiell denkbar, im Detail sind die Voraussetzungen aber näher zu prüfen: Wie weit reicht der Schutzzweck des Schulrechts? Welche Maßnahmen gebietet die Fürsorgepflicht zugunsten der Lehrer? Auch müssen diese Rechtspflichten schuldhaft verletzt werden, um eine Amtshaftung auszulösen."
Der Verfassungsrechtler appelliert an die Regierung, die Zeit bis zum Herbst zu nützen, um Rechtsklarheit zu schaffen. Zu Unsicherheiten wie bei den Corona-Strafen dürfe es nicht mehr kommen. "Wir brauchen für den Herbst klare rechtliche Maßstäbe. Die fehlen derzeit in mehreren Bereichen." So müsse jemand, der in der Früh mit einem Husten aufwache, wissen: "Darf ich in die Arbeit gehen? Darf ich die Kinder in die Schule schicken? Muss ich immer sofort 1450 rufen?"
Wenn das alles klar sei, könne man sich darauf einstellen und nach den Vorgaben handeln: "Aber derzeit lässt das Covid-19-Recht noch zu viele Fragen offen." Das sorge für Verunsicherung und sei der Effektivität der Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie nicht zuträglich, meint Fister.