Paris - Fünf Jahre haben sie es zusammen ausgehalten, aber nur mit Zähneknirschen. Bei der Präsidentschaftswahl in Frankreich können Amtsinhaber Jacques Chirac und Premierminister Lionel Jospin endlich reinen Tisch machen. Am Mittwochabend hat Jospin seine Kandidatur verkündet, zehn Tage nach Chirac. Die politische Zwangsehe, die den beiden Kontrahenten von Verfassung und Wählerwillen auferlegt war, geht damit zu Ende.
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Ohne Zweifel werden Chirac und Jospin nach dem ersten Wahlgang am 21. April in die Stichwahl kommen. So prallen ihre gegensätzlichen Charaktere nochmals aufeinander: markige Worte und große Gesten bei Chirac, oberlehrerhafte Präzision bei Jospin, gaullistische Tradition gegen trotzkistische Vision.
Die Gegensätze sind krass. Der 69-jährige Staatschef sieht sich als Enkel des Republik-Gründers Charles de Gaulle. Chirac ist verwurzelt im Katholizismus. Er redet mit sonorer Stimme und liebt das Bad in der Menge. Innere Sicherheit und das Überleben der französischen Landwirte sind die Steckenpferde des konservativen Amtsinhabers. Der 64-jährige Premier hingegen hat früher von der Weltrevolution geträumt und seine geheim gehaltene trotzkistische Vergangenheit erst im vergangenen Jahr zugegeben. Er stammt aus calvinistischem Elternhaus. Jospin wirkt oft verklemmt, seine hohe Stimme gereizt. Seine Gedanken gelten der modernen Arbeitswelt, die er mit Zwangsmaßnahmen wie der 35-Stunden-Woche umgestalten will. Die Ehefrauen passen ins Bild: Chirac ist seit Jahrzehnten mit der Landadeligen Bernadette Chaudron de Courcel verheiratet, Jospin in zweiter Ehe mit der Philosophin Sylviane Agacinski.
Als Chirac 1995 in den Elysee-Palast einzog, hatte er schon zwei Jahrzehnte darauf hingearbeitet. Bei den beiden Anläufen 1981 und 1988 war er gescheitert - an dem Liberalen Valery Giscard d'Estaing, vor allem aber an dem Sozialisten François Mitterrand. Mit der Gründung des "Rassemblement pour la Republique" (RPR) legte Chirac 1976 den Grundstein für seinen Aufstieg. Die RPR wurde zur beständigsten Größe im rechten Lager und drängte die Liberalen in den Hintergrund. Von 1977 bis 1995 war Chirac Pariser Bürgermeister und baute das Rathaus der Hauptstadt zu seiner Bastion aus. Damals wurden mutmaßlich illegal Millionensummen in die RPR-Kassen gelenkt - diese Affären könnten Chirac im Falle einer Niederlage einholen. Bisher schützt ihn sein Amt.
Jospin kam 1995 als Präsidentschaftsbewerber der Sozialisten zum Zug, weil der ehemalige EU-Kommissionspräsident Jacques Delors ablehnte. Dafür, dass er ein Verlegenheitskandidat war, schlug er sich recht gut. Nur vier Prozent trennten ihn am Ende von Chirac. Ein Unbekannter war Jospin ohnehin nicht gewesen, denn 1981 bis 1988 stand er an der Spitze der Sozialistischen Partei (PS), außerdem war er unter Mitterrand Erziehungsminister. Als langjähriger Fachhochschul-Dozent gewöhnte er sich den belehrenden Ton an, der ihm immer wieder vorgeworfen wird.
Bei allen Unterschieden gibt es zwischen Chirac und Jospin doch auch Gemeinsamkeiten. Beide haben sie die Eliteschulen Sciences-Po und ENA (Ecole Nationale d'Administration) besucht, die als Eintrittspforten zur Staatsführung gelten. Beide haben sie, wenngleich mit geballten Fäusten, die "Kohabitation" durchgestanden. Und bei allen Animositäten haben sie die Staatsräson beachtet und vor allem in der Außenpolitik eine gemeinsame Linie verfochten.
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Wer auch immer aus der Stichwahl am 5. Mai hervorgeht, seine Amtszeit wird um zwei Jahre kürzer sein als jene der bisherigen Präsidenten, da das Mandat per Volksabstimmung im September 2000 verkürzt wurde. Eine Wiederwahl ist beliebig oft möglich. Bisher wurde noch kein Präsident im ersten Wahlgang gewählt. Rekordhalter, was die Länge der Amtszeit betrifft ist Francois Mitterand, der von 1981 bis 1995 im Elysee residierte.