Die indigene Bevölkerung des vom Bürgerkrieg gezeichneten Landes Kolumbien setzt sich tatkräftig für den Frieden ein - doch sie gerät von allen Seiten unter Beschuss. Ein Bericht der Vereinten Nationen schlägt Alarm.
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"In einigen Tälern herrscht ein zauberhaftes Klima, und dort wächst ein Kraut namens Koka. Die Ureinwohner schätzen es mehr als Gold und Silber. Die Kraft dieses Krautes geht so weit, dass, wer die Blätter in den Mund nimmt, weder Hunger noch Durst leidet". Der spanische Chronist, der diese Beobachtung nach der Eroberung Kolumbiens vor knapp 500 Jahren niederschrieb, erlebte noch ein freundliches Land mit einer friedlichen Bevölkerung, in dem es jenes Metall, nach dem die europäischen Eindringlinge so verrückt waren, offenbar im Überfluss gab: das Gold. Und so entstand die Legende vom Eldorado, dem Goldland; und von den etwa drei Millionen Menschen, die damals im Gebiet des heutigen Kolumbiens siedelten, leben noch knapp 800.000, aufgeteilt in über 80 verschiedene Ethnien - das sind nicht einmal zwei Prozent der Gesamtbevölkerung.
Das Zeitalter der Gewalt
Von Frieden und Überfluss ist im gegenwärtigen Kolumbien nichts mehr zu spüren. Die Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen bewaffneten Akteuren haben seit dem Beginn eines Bürgerkriegs 1948 etwa eine halbe Million Menschen das Leben gekostet. Standen sich damals, in der Zeit der Violencia, der Gewalttätigkeit, die beiden Großparteien Liberale und Konservative kriegerisch gegenüber, so waren es später die Armee und die paramilitärischen Gruppen auf der einen und die Guerillabewegungen auf der anderen Seite. Und in den letzten zwei Jahrzehnten sorgen auch die Banden der Drogenhändler für eine Beschleunigung der Gewaltspirale. Seit zweieinhalb Jahren, seit Präsident Alvaro Uribe Vélez mit starker Hand die Guerilla militärisch besiegen will, haben die Auseinandersetzungen weiter zugenommen.
Irgendwo in diesem Endloskonflikt steht die indigene Bevölkerung Kolumbiens. Sie, die sich mit Recht als die "großen Brüder" betrachten, als die Erstbewohner, die ihr Land und die Natur bewahren und schützen wollen, geraten ins Schussfeld aller Seiten. Ein kürzlich veröffentlichter Bericht des UN-Sonderberichterstatters für die Menschenrechte und die Grundfreiheiten der indigenen Völker, Rodolfo Stavenhagen, brachte alarmierende Verhältnisse an die Öffentlichkeit. Zwar gelang es der kolumbianischen Regierung, die von dem mexikanischen Menschenrechtsexperten Stavenhagen verwendeten Ausdrücke "Genozid" und "Ethnozid" aus dem Schlussbericht herauszuverhandeln, dennoch spart die Untersuchung nicht mit Kritik an der so genannten Politik der "demokratischen Sicherheit" des Präsidenten und deren Folgen für die kolumbianischen Ureinwohner. Indem diese veranlasst werden, sich in das unter Uribe aufgebaute landesweite "Informanten-", d.h. Spitzelnetz oder in das ebenfalls neue "Bauernheer" zu integrieren, werden sie vermehrt zur Zielscheibe von Vergeltungsaktionen der Guerilla. So wurden seit dem Jahr 2000 mindestens 350 Indígenas umgebracht, darunter zahlreiche geistige und politische Führer der indianischen Gemeinschaften. Durch die Bedrohung durch bewaffnete Banden mussten in den letzten Jahren auch immer mehr Angehörige indianischer Völker in ruhigere Landesteile oder in die Großstädte fliehen.
Guerilla mit Kolonialherrenmentalität
Doch bedarf die Guerilla nicht des Vorwandes, die Indios wären Spitzel im Dienste des Staates. Ihre Politik gegenüber den Ureinwohnern Kolumbiens ist geprägt von einer kolonialistischen Herrenmentalität, wie man sie von jenen, die eine bessere Gesellschaftsordnung und einen neuen Menschen schaffen wollen, nicht erwarten würde. Besonders die größte Aufständischenbewegung, die "Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens" (FARC), missachten und verletzen immer wieder das Recht der indigenen Bevölkerung auf freie Mobilität in ihren Siedlungsräumen, auf die eigene Kultur, auf selbst gewählte Vertreter und Vertreterinnen in ihren eigenen politischen Instanzen, den Cabildos.
Stavenhagen spricht in seinem Bericht von einer gezielten Strategie der Ermordung von indigenen Führern, um die sozialen und politischen Organisationen der Gemeinschaften zu demobilisieren. So ermordeten die FARC im vergangenen November den beliebten Mamo (geistiger Führer) der Arhuacos, Mariano Suárez Chaparro. Dieses Volk lebt im Gebirgsmassiv der Sierra Nevada im Norden Kolumbiens und sieht sich durch die Präsenz von Armee, Paramilitärs und Guerilla in ihrem Gebiet besonders bedrängt.
Platz frei für Großprojekte
Im Amazonasgebiet Kolumbiens sind nach den Untersuchungen von Stavenhagen und seinem Team die FARC für 34,3 Prozent der Ermordungen von Indios verantwortlich, die paramilitärischen Gruppen, von denen gegenwärtig ein Teil die Waffen niederlegt (vgl. "Wiener Zeitung" vom 7.1., Seite 8), für 36,7%. In anderen Landesteilen, vor allem im Departement Antioquia und in der Sierra Nevada, ist die Urheberschaft der Paramilitärs viel stärker. Hier geht es häufig darum, durch Ermordung von Führern oder durch die permanente physische Bedrohung der Gemeinschaften deren Widerstand gegen wirtschaftliche Erschließungsprojekte zu brechen: Den Bau von Staudämmen (Beispiel Urrá in Antioquia und Los Besotes in der Sierra Nevada), Erdölförderung, die Gier von Großgrundbesitzern - und schließlich auch die Schaffung von Korridoren für den Waffen- und Drogenhandel, besonders in den Grenzgebieten. Oder einfach weil ihr Land gut geeignet ist für den Anbau der Kokapflanze, jenem heiligen und heilsamen Blatt der Indios, das die Zivilisation der Weißen zu einem Rauschgift verkommen ließ. Schließlich finanzieren sich die FARC und in einem noch größeren Ausmaß die Paramilitärs vom Drogenanbau und vom Handel mit Kokain und Heroin.
Gewaltloser Widerstand
Doch der friedliche Widerstand der indigenen Gemeinschaften zeigt auch Erfolge. "Wir leisten weiter Widerstand - gegen die Bewaffneten und gegen die Megaprojekte", wie es Lisardo Domicó, Sekretär der Nationalorganisation indigener Völker (ONIC), formuliert. Für Luis Evelis Andrade, den Präsidenten dieser Dachorganisation, ist die Bedrohung der indianischen Bevölkerung der Preis dafür, ihr Recht auf ihr eigenes Leben, ihre eigene Kultur und die Autonomie gegenüber den bewaffneten Akteuren zu verteidigen.
Ein eindrucksvolles Beispiel von gewaltlosem Widerstand legen die indianischen Gemeinschaften der südkolumbianischen Gebirgsprovinz Cauca ab. Hier sind sowohl die Paramilitärs als auch die FARC seit Jahren präsent und bekämpfen sich - und beschuldigen immer wieder die Indios, Parteigänger der einen oder anderen Seite zu sein. Diese haben nun die Widerstandsform der Guardia Indígena entwickelt, der "indigenen Wacht". Wenn nun eine Gemeinschaft bedroht oder ein Bürgermeister oder Cabildo-Rat entführt wird, so ziehen die Indios zu Hunderten, oft zu Tausenden aus, nur mit ihren traditionellen Zeremonialstäben "bewaffnet", und bilden einen Schutzkordon oder suchen die Entführten, beschützen Protestaktionen, zerstören Kokain-Laboratorien. Diese "Guardia Indígena" erhielt im Dezember des Vorjahres den kolumbianischen Nationalpreis für den Frieden, eine von mehreren Medien und zivilgesellschaftlichen Organisationen gestiftete Auszeichnung.
Auch in anderen Landesteilen sehen sich die bewaffneten Akteure des kolumbianischen Dauerkonfliktes immer wieder mit dem organisierten friedlichen Widerstand der indigenen Gemeinschaften konfrontiert, u.a. Straßenblockaden und Protestmärsche. Im vergangenen Mai zogen an die 30.000 Indígenas in einem "Marsch für das Leben und gegen die Gewalt" vom Departement Cauca in die etwa 150 km nördlich gelegene Großstadt Cali. Als Präsident Uribe sich mit den Organisatoren des Marsches treffen wollte, lehnten diese dankend ab: Sie wollen sich vom Staat genauso wenig vereinnahmen lassen wie von den anderen Konfliktparteien.