Junge Türkinnen sind doppelt so stark suizidgefährdet. | Medienkampagne in Berlin soll helfen. | Berlin/Wien. In Deutschland sind junge türkisch-stämmige Frauen der zweiten Generation überdurchschnittlich stark suizidgefährdet. Das geht aus den bisherigen Studien hervor. In Berlin richtete nun die psychiatrische Universitätsklinik der Charité ein eigenes Krisentelefon ein und sensibilisiert über eine breite Plakat-Kampagne für das Thema; ein eigenes Forschungsprojekt unter Führung der Charité widmet sich den Ursachen. Finanziert wird das Projekt vom deutschen Forschungsministerium.
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Generell sind Selbstmorde unter Türken rar. In Deutschland wie in anderen Ländern sind sie seltener als bei der einheimischen Bevölkerung, auch die türkische Suizidrate liegt unter dem europäischen Durchschnitt. Nestor Kapusta, Psychiater an der Wiener Universitätsklinik für Psychoanalyse und Psychotherapie betont, dass Zuwanderer meist die Suizidraten ihrer Herkunftsländer "importieren": Die Selbstmordrate ändert sich nach der Auswanderung nicht. Die geringe Anzahl an Suiziden unter Türken führt er auf das Selbstmord-Verbot im Islam und die gesellschaftliche Haltung in der Türkei zu Suizid zurück. Fachleute halten generell den Zusammenhalt in der türkischen Gesellschaft für relevant.
Anders sieht es bei der zweiten Generation aus: Mehrere Daten - unter anderem eine Multicenterstudie der Weltgesundheitsorganisation aus dem Raum Würzburg - belegen, dass bei 16- bis 24-jährigen Frauen mit türkischen Wurzeln die Häufigkeit von versuchten und vollendeten Suiziden annähernd doppelt so hoch ist wie bei gleichaltrigen Frauen aus deutschen Familien. Doch europaweit sind die Daten zur Thematik nach wie vor lückenhaft, die Ursachen sind bisher kaum erforscht. Das Berliner Forschungsprojekt soll das nun ändern.
Grund: Strenge Regeln
Meryam Schouler-Ocak, Oberärztin an der psychiatrischen Universitätsklinik der Charité und Initiatorin der eben begonnenen sechsmonatigen Medienkampagne, berichtet, dass jüngere Frauen ganz andere Beweggründe für ihren Selbstmordversuch nannten als Heiratsmigrantinnen oder ältere Frauen.
Türkische Frauen gaben zum Beispiel an, dass die Partner sich zusätzlich deutsche Freundinnen gesucht haben und von den Ehefrauen erwartet haben, dass sie treu bleiben. Bei jungen Frauen und Mädchen sind die Hauptgründe vor allem strenge Regeln. Im Interview mit der deutschen Tageszeitung "taz" nennt Schouler-Ocak einige Fälle: "Dass man nicht rausgehen darf, keinen Freund haben darf, dass man sich nicht so kleiden oder sich so entwickeln darf, wie man das möchte. Oder dass man jemanden heiraten soll, den man nicht mag."
Die soziale Situation von Migranten dürfte die Probleme verschärfen, etwa durch den Konflikt zwischen traditioneller Rollenerwartung und moderner Lebensform, familiäre Gewalt und durch Ausgrenzung in der Aufnahmegesellschaft. Freilich gibt es auch innerhalb der Türkei Unterschiede: In Südostanatolien, von wo viele Migranten kommen, sind Selbstmorde häufiger. Schouler-Ocak meint, dass Ehrenmorde, Bestrafungen und fehlende Hilfsmöglichkeiten dort dazu beitragen.
In Österreich gibt es wenige aussagekräftige Daten, betont Kapusta, auch wegen der im Vergleich zu Deutschland geringeren Anzahl der Suizide. Statistiken erfassen die Staatszugehörigkeit, nicht die Herkunft. Doch hebt auch Kapusta hervor, dass hier jüngere Türkinnen ein "geringfügig höheres Suizid-Risiko" aufweisen: 33 Prozent aller Suizide unter 15- bis 19-jährigen türkischen Staatsbürgern wurden von Frauen begangen, nur 22 Prozent sind es bei Österreichern.