Im Kosovo lebt die jüngste Bevölkerung Europas. 600.000 der zwei Millionen Einwohner sind zwischen 15 und 24 Jahre alt. Viele dieser jungen Menschen zeichnen sich durch Aufbruchsgeist und Interesse an besserer Bildung aus. Auch an Förderungen fehlt es nicht völlig - doch müsste mehr getan werden für die jungen Kosovaren. Denn eines ist sicher: Sie haben eine schwierige Zukunft vor sich.
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"Das größte Problem der jungen Menschen im Kosovo ist die Mobilität", sagt Skender Boshtrakaj, Direktor des Jugend-Departements im kosovarischen Ministerium für Kultur, Jugend und Sport. Es sei nicht nur für die Menschen in den Enklaven der Minderheiten fast unmöglich, ihre unmittelbare Umgebung zu verlassen, sondern auch für die Bewohner vieler albanischer Dörfer und Städte. Es gibt kaum öffentlichen Verkehr, und es fehlt vor allem am Geld, um sich ein Busticket leisten zu können.
Von Reisen ins Ausland ganz zu schweigen: Dort kommen zu den hohen Kosten noch die beträchtlichen Schwierigkeiten dazu, ein Visum zu erhalten. Der nach wie vor ungeklärte Status des unter UNO-Verwaltung stehenden Kosovo trägt seinen Teil dazu bei: Die Pässe der UNO-Behörde UNMIK werden nicht überall anerkannt. Einer Gruppe von 50 Jugendlichen, die an einer internationalen Friedensfahrt mit dem Zug in die derzeitige Kulturhauptstadt Graz teilnehmen wollten, blieb die gemeinsame Reise durch die neuen Länder des ehemaligen Jugoslawien verwehrt: Es erwies sich als unmöglich, die notwendigen Transitvisen zu beschaffen. Wenigstens gelang es, eine Fahrt mit einem Bus nach Graz zu organisieren. Doch dazu musste den jugendlichen Teilnehmern auch eingeschärft werden, den dreitägigen Aufenthalt in Graz nicht zu missbrauchen, um abzuspringen und den Kosovo hinter sich zu lassen.
Geistiger Stillstand
Davon träumen viele der rund 600.000 Jugendlichen und jungen Erwachsenen im Alter von 15 bis 24 Jahren. Doch Skender Boshtrakay meint nicht nur die stark erschwerte physische Mobilität. Die Jugend im Kosovo sei auch geistig zum Stillstand verurteilt. Die meisten jungen Leute lebten isoliert in ihren Gemeinschaften, es gebe kaum Kontakte nach außen - schon gar nicht zu den Jugendlichen anderer Nationen im Kosovo. Auch die internationale Isolation werde von vielen als bedrückend empfunden. Ein Mitarbeiter eines der 50 Jugendzentren im Land bringt die Stimmung so zum Ausdruck: "Die internationale Gemeinschaft hat vieles unternommen für den Wiederaufbau des Kosovo. Die Flüchtlinge sind zur Rückkehr gedrängt worden. Und die meisten sind freiwillig wieder in ihre Heimat gegangen. Doch jetzt leben wir in einem Ghetto, in dem es immer unbehaglicher wird".
Dass sich der junge Mann einen unabhängigen Kosovo wünscht, daran besteht kein Zweifel. Doch in seinen Worten, die undankbar und vermessen klingen, steckt nicht nur politisch motivierte Rhetorik. Es ist vor allem pure Verzweiflung. Tausende mit internationaler Hilfe wieder aufgebaute Häuser, instandgesetzte Straßen und Brücken und eine funktionierende Verwaltung unter Kontrolle der Internationalen Gemeinschaft können nicht darüber hinwegtäuschen, dass die ökonomische und soziale Lage immer bedrohlicher wird. Rund drei Viertel der arbeitsfähigen Bevölkerung haben keinen Job, und selbst jene, die in der glücklichen Lage sind, entweder einen Posten in der öffentlichen Verwaltung oder bei einer internationalen Organisation zu besetzen, schlagen sich mehr schlecht als recht durchs Leben. 136 Euro verdienen die Lehrer an der Selman Reza-Schule in Gjakova im Westen des Kosovo. 816 Kinder, unter ihnen rund 100 Rückkehrer, von der ersten bis zur achten Klasse werden von 46 Lehrkräften unterrichtet. Der Unterricht ist nur im Drei-Schicht-Betrieb möglich. Von acht Uhr morgens bis in die frühen Abendstunden herrscht Hochbetrieb.
Mangelbewirtschaftung
Doch es mangelt an allem. Dem Handarbeits- und Informatiklehrer Gjoke Osmani stehen ein Computer und etwas Papier als Unterrichtsmaterialien zur Verfügung. Er beschränkt sich zwangsläufig auf die Theorie. Die Schülerinnen und Schüler müssen für die Unterrichtsunterlagen selber aufkommen. Das summiert sich in einem Schuljahr auf rund 180 Euro - viel Geld, das oft nur dank der Überweisungen von Verwandten aus dem Ausland aufgebracht werden kann. Rund eine Milliarde Euro jährlich soll aus der Diaspora in den Kosovo fließen.
Die 13-jährige Erlita Islami besucht die achte Klasse in der Selman Reza-Schule. Seit knapp drei Jahren lebt sie mit ihren Eltern, den drei Geschwistern und der Großmutter nach sechsjährigem Exil in Deutschland und der Schweiz wieder in Gjakova. Das schwer beschädigte Haus ist im Untergeschoss instand gesetzt. Erlita geht gerne zur Schule, und sie besucht neben dem obligatorischen Unterricht noch dreimal wöchentlich einen Englischkurs. Deutsch und Englisch spricht sie fließend, Französisch hat sie während den zwei Jahren im Schweizer Jura gelernt. Die Kontakte sind bis heute nicht abgebrochen, mit deutschen und Schweizer Freundinnen gibt es regelmä-ßigen Briefverkehr. "Ich würde sie sehr gerne besuchen", sagt Erlita. "Aber leben möchte ich im Kosovo. Das ist meine Heimat." Und das Allerschönste wäre, ergänzt der Teenager, "es im Kosovo materiell so gut zu haben wie in Deutschland". Dass dies noch lange dauern wird, darüber macht sich die 13-jährige noch keine Gedanken. Sie möchte einmal Ärztin werden.
Neue Initiativen
Der 24-jährige Alban Ibrahimi macht sich keine Illusionen über seine eigene persönliche Zukunft. "Ich wünsche mir nur, dass es meinen Kindern einmal besser geht". Ibrahimi ist Mitglied der "kosovarischen Organisation für neue Initiativen" (KONI), einer multiethnisch zusammengesetzten Gruppe junger Leute. Seit bald drei Jahren treffen sich die aktiven Mitglieder, deren Zahl von 11 auf 31 angewachsen ist, regelmäßig. Bei den ersten Zusammenkünften war es unter Beteiligung von Jugendlichen aus Nordirland um Krieg und Vertreibung im Kosovo gegangen. Inhaltlich sei man sich dabei nicht wirklich näher gekommen. "Wir waren uns schließlich einig, dass es über den Krieg keinen Konsens vor allem zwischen Albanern und Serben geben kann. Die Wunden sitzen dazu noch zu tief. Aber es war uns ebenso klar, dass wir weitermachen wollen mit dem Ziel eines multiethnischen Kosovo, in dem alle Nationen friedlich zusammenleben. Unser Motto heißt versöhnen, ohne zu vergessen."
Dass zwei junge Albaner die serbischen Teilnehmer eines Seminars danach zum Checkpoint in der geteilten Stadt Mitrovica gefahren haben, nicht ohne auf der albanischen Seite noch in ein Café zu gehen, sei weit mehr gewesen als eine freundschaftliche Geste. "Es war ein demonstrativer Akt der Normalität."
Die Mitglieder von KONI, die sich anfänglich noch heimlich getroffen hatten, reden inzwischen auch öffentlich über ihr Ziel, die Kluft zwischen den Nationalitäten zu überwinden und gemeinsam an einem neuen Kosovo zu arbeiten. Dass diese vertrauensbildenden Maßnahmen nur ein erster Schritt sein können, ist allen Beteiligten klar. Auch Skender Boshtrakay wünschte sich gerne mehr Mittel als die 240.000 Euro, die ihm jährlich für die Jugendarbeit zur Verfügung stehen.
Doch andererseits steht der Kosovo damit im Vergleich zu den Nachbarn noch gut da. In Bosnien-Herzegowina gibt es nicht einmal eine entsprechende Abteilung in der Verwaltung, und auch in Serbien können Jugendliche von einem so dichten Netz von Jugendzentren nur träumen: in den 30 Gemeinden des Landes gibt es 50 Zentren! Ihre Rolle geht weit über die Freizeitbeschäftigung hinaus. In Suha Reka ist aus dem im April 2002 eröffneten "Fellbach"-Haus ein Gemeinde- und Ausbildungszentrum geworden.
Bildungsangebote
Freizeit haben die vielen arbeitslosen Schulabgänger mehr als genug, und so machen sie von den Bildungsangeboten, die von Computer-, Englisch-, Theater-, Mal- oder Kochkursen bis zur Einführung in den Radiojournalismus reichen, regen Gebrauch. Über 2.000 Jugendliche haben im vergangenen Jahr an solchen Kursen teilgenommen. Faktisch ist das Jugendhaus die einzige Bildungsstätte in einer Region mit 80.000 Einwohnern in 43 Siedlungen, die über das obligatorische Angebot der Grundschulen und Gymnasien hinaus Gelegenheit bietet, Neues zu lernen.
Die überaus rege Teilnahme der jungen Leute demonstriert eindrücklich den Willen, das Schicksal selber in die Hand zu nehmen. Eine im vergangenen Dezember veröffentlichte Umfrage des schwedischen Institutes für soziale Bildung unter 1.000 Jugendlichen ergibt das Bild einer kosovarischen Jugend, die trotz der sehr misslichen Umstände mit einer großen Portion Optimismus in die Zukunft blickt.
Für Skender Boshtrakay zeigt sich darin ein typisches Paradox seiner Heimat. "Die meisten Jungen sehen die Lage realistisch. Sie wissen genau, dass sie im Westen nicht erwünscht sind. Ihren Optimismus schöpfen sie aus der jüngeren Vergangenheit. Der Tiefpunkt war mit dem Krieg 1999 erreicht. Jetzt genießen sie bürgerliche Freiheiten, die sie in ihrem bisherigen Leben nicht gekannt haben."
Das in den Umfragen zu Tage tretende jugendliche Selbstbild mag aber auch eine naive Verzerrung der Realität sein, und die Stimmung könnte rasch kippen, wenn der wirtschaftliche Aufschwung länger auf sich warten lässt als erhofft.
Tatsächlich zeigt sich im Vergleich mit früher durchgeführten Umfragen ein sinkender Anteil von Optimisten. Doch auch wenn im internationalen Vergleich ein paar Ränge verloren gegangen sind - im Jahr 2000 waren die Kosovaren nach den Isländern die optimistischsten Menschen der Welt -, so erinnert der kollektive Wille, nach vorne zu schauen, an Deutschland oder Österreich in der Nachkriegszeit. Das sind zumindest in mentaler Hinsicht keine schlechten Voraussetzungen für die Zukunft.