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Zwischen den Welten

Von Monika Jonasch

Wissen
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© © Guntmar Fritz/Corbis

Was erwartet jemanden, der sich die Tarot-Karten legen lässt? Mystik? Magie? Oder am Ende Psychotherapie? Ein Selbstversuch, ein Fragespiel und viel Stoff zum Nachdenken …


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"Ist es dringend?", fragt mich die Dame am Telefon, als ich anrufe, um einen Termin fürs Kartenlegen auszumachen. Dringend? Na ja, ich habe einen Abgabetermin, das kann sie aber nicht gemeint haben. Kann es denn dringend sein, wenn man zu einer Kartenlegerin geht? Dann erst verstehe ich: Viele Menschen kommen in Lebenskrisen zur Kartenlesung, um Antworten, Auswege zu finden. Also nein, so dringend ist es wohl eher nicht. Und wenn ich vormittags komme, dann gibt es auch noch genügend Termine, wird mir versichert.

Nun ist das Datum fix, allein, was soll ich die Gute denn fragen? Schummeln wird nicht funktionieren. Erstens bin ich keine gute Schauspielerin, zweitens zu faul zum Lügen und sowieso habe ich keine Zeit, mir eine überzeugende Geschichte auszudenken. Und überhaupt: Was, wenn das mit dem Kartenlegen wirklich funktioniert, so irgendwie? Wäre doch schade, die Chance auf einen kleinen Blick in die Zukunft zu verpassen … Aber mein ganzes Privatleben möchte ich auch nicht ausbreiten in so einem Feldversuch. Und dann noch darüber schreiben – am Ende liest das ja jemand!

Midlife-Crisis als Ausweg

Also muss ich mir etwas ausdenken, das ein wenig an der Oberfläche bleibt, aber trotzdem meiner realen Lebenssituation entspricht. Gut, dann eben eine mittelprächtige Midlife-Crisis: Frau Anfang 40, kleines Kind, Karriere – wie soll es weitergehen? Fein, das hätten wir. Plötzlich fühle ich mich wie weiland Günther Wallraff, der Enthüllungsreporter.

Aber ich habe ja am Telefon meinen Namen gesagt. Zu dumm, am Ende googelt sie mich. Dann wüsste sie recht schnell recht viel über mich – leider. Eine der Nebenwirkungen des Journalismus. Aber halt, der Familienname allein brächte sie noch nicht viel weiter, sehe ich da. Habe ich meinen Vornamen gesagt? Egal! Ich lasse mich jetzt überraschen. Schnell noch nachgeforscht, was ich im Internet so über mich finde, damit ich weiß, woher die möglicherweise kuriosen Erkenntnisse kommen.

Der Tag ist gekommen, Nebel liegt über der Stadt – das hat etwas Passendes, so mythisch, undurchsichtig, geheimnisvoll. Im Autoradio stimmen U2 "I still haven’t found what I’m looking for" an. Das passt auch irgendwie. Kurz sitze ich noch und warte, ich bin überraschend früh dran – das ist für mich eher ungewöhnlich. Was mich da wohl erwartet? Ein bisschen flau wird mir jetzt doch im Magen. Womöglich höre ich hier etwas, das ich gar nicht hören will? Bevor ich mich da in etwas reinsteigere, schreibe ich lieber noch schnell eine SMS. Bloß nicht zu viel nachdenken, was genau ich da tue. Dann geht es auch schon los.

Hexenhaus mit Kerzenduft

Ein kleines Reihenhaus, vielleicht aus den 1930ern, an Wiens Peripherie, alter Baumbestand, Gemeindebauten rundherum, ein paar Stufen hinauf zur Haustür. "Bitte klopfen!" steht da, und schnell öffnet sich mir die Tür, eine freundliche, dunkelhaarige und sehr gepflegte Frau, einige Jahre älter als ich, öffnet mir. "Bitte die Schuhe ausziehen!", meint sie und führt mich dann in eine Wohnküche mit bollerndem Ofen, vielen Kerzen und einem nicht unangenehmen Duft nach Räucherstäbchen. Sandelholz, glaube ich, das ist auch der einzige Räucherstäbchenduft, den ich halbwegs mag.
Ist das jetzt so etwas wie ein Hexenhaus? Schnell verdränge ich die Geschichte von Hänsel und Gretel. Zu viel Fantasie kann auch ein Fluch sein, und ich muss mich jetzt konzentrieren, mein Anliegen glaubhaft vorbringen.
 
Ich schlüpfe also in die Rolle der Midlife-Crisis-Tante, was ja nicht gänzlich gespielt ist. Das gehört ja eher zum klassischen Repertoire meiner Altersgruppe, nur dass man halt im Alltag darüber nie so ausgiebig redet. Die Kartenlegerin hört zu, will mehr wissen. Was für einen Beruf ich denn habe – tja, da muss ich weiteres Nachfragen ablehnen, sonst fliegt meine "Tarnung" womöglich auf. Andererseits könnte ich ja privat da sein. Aber die Befangenheit möchte ich uns beiden ersparen. Sie zieht ein wenig die Brauen hoch, akzeptiert aber meine Zurückhaltung.

Wo sind die Karten?

Eine Teetasse in der Hand plaudern wir erst nur so. Das kenne ich, alter Interview-Trick: Erst mal kennenlernen, entspannen, dann geht es zur Sache. Ich muss innerlich grinsen, merke aber gleichzeitig, dass ich mit übergeschlagenen Beinen und verschränkten Armen dasitze. Sie versteht sicher etwas von Körpersprache, muss sie ja in dem Metier. Also besser Entspannung signalisieren. Der Smalltalk neigt sich dann auch schnell seinem Ende zu. Und da sind sie schon, die Karten!
Die kenne ich! Beim Tarot gibt es verschiedene Decks mit unterschiedlichen Symbolen und mehr oder weniger Karten. Die Kartenlegerin benützt genau jene Sorte, mit der ich vor vielen Jahren ein wenig herumexperimentiert habe. Für mich war es damals ein Spiel mit Symbolen, die zum Nachdenken über die eigene Situation, Wünsche und Ängste anregen.

Als ich es dann aber als Silvester-Gag verwendete, hat es eine meiner Freundinnen so ernst genommen, dass sie damals das Ende ihrer Beziehung in den Karten gesehen hat. Sie wurde richtig wütend, dabei hatte ich – noch – so gut wie gar nichts interpretiert. Sie hatte es einfach selbst so gesehen. Seit damals habe ich die Karten nie mehr für jemanden gelegt. Sie gefallen mir aber nach wie vor, sprechen mich durchaus an, diese hübschen, archaischen Symbole. Vor allem die der sogenannten großen Arkana finde ich recht inspirierend.

Egal, die Karten sind mir also einigermaßen vertraut, ich kann mich entspannen. Jetzt darf ich mischen, dann ein weitläufiger Schwung und die gepflegten Hände mit den knallrot lackierten Nägeln fächern die Karten vor mir auf. Ich soll mit der linken Hand vier Karten ziehen.

Warum? Das sei die emotionale, die weibliche Hälfte, versichert sie mir. Und schon freue ich mich über viele bunte Bilder. Sie sollen mir zeigen, wo ich stehe, wie es mir geht. Von vier Karten sehe ich drei große Arkana, das gefällt mir, dazu die Hohepriesterin, meine Lieblingskarte. Wofür sie steht, habe ich längst vergessen. Aber dafür gibt es ja die weise Frau mir gegenüber. Kurz zusammengefasst: Alles ok! Da bin ich jetzt echt erleichtert.

Jetzt geht es zur Sache

Aber nun geht es wirklich zur Sache, sie will mehr wissen, hakt hier und da noch ein wenig nach: Was denn nun meine drängenden Fragen wären. Ich muss mich konzentrieren, meinen oberflächlichen Vorwand zu meinem echten, ernsten Anliegen machen. Ein wenig Leidensdruck dazuzumischen, wäre jetzt auch nicht schlecht. Tatsächlich beginne ich mich nun doch hineinzusteigern. Ist doch auch naheliegend: Die Problematik ist ja realistisch, irgendwie passt die Frage wohl zu gut. Glaube ich nun selbst an meine erfundene Lebenskrise? Es geht halt ans Eingemachte, da muss ich jetzt durch. Wenn sie mir nicht glaubt, kann es ja nicht funktionieren. Ein wenig verwirrt ist die Arme immer noch, dass ich mich mit Beruflichem so zurückhalte und keine dramatischeren Probleme habe. Halt: Bleiben wir bitte bei der Midlife-Crisis!

Was wäre wenn?

Karrieremäßig Gas geben oder einem womöglich noch latenten Kinderwunsch nachgeben? Das serviere ich ihr also nachdrücklich auf einem Silbetablett. Damit kann sie arbeiten. Wir machen eine Art "Was-wäre-wenn-Spiel". Wenn ich also ein zweites Kind bekomme, oder wenn nicht…

Sie fragt immer wieder nach, ist hartnäckig. Nun kommt sie doch recht nahe an mein Allerprivatestes heran, ich muss mehr von mir verraten als geplant. Schon sieht sie da den Konflikt zwischen Sicherheitsdenken und Selbstverwirklichung. Das ist die Essenz eines längeren Gespräches, aber darauf läuft es hinaus. Kind oder Karriere – schauen wir mal, was die Karten sagen: Sowohl – als auch. Na, das ist jetzt aber ein wenig schwammig, oder? Ich bin etwas enttäuscht. Also keine klare Antwort – nicht dass ich mir die nicht selbst geben könnte. Aber was hatte ich eigentlich erwartet? Ist sowohl als auch nicht viel besser?

Sie spürt meine Verwirrung und wird genauer, beruhigt mich: "Ich würde sogar sagen, dass ein potenzielles Kind Ihrer Karriere erst so richtig den Schub geben könnte. Hier liegt die Herrscherin, Kraft und Energie haben sie genug, da müssen Sie sich keine Sorgen machen. Von Schwäche ist weit und breit nichts zu sehen." Gut, ich bin also stark, das klingt fein, damit kann ich leben.

Und was, wenn es kein Kind mehr wird? Auch kein Problem, meinen die Karten. Drei Kelche recken sich gegen den Himmel, drei Menschen brechen in einem Kahn zu neuen Ufern auf. Positive Grundstimmung also. Alles ist möglich, nix ist fix. Ich bin enttäuscht und erleichtert zugleich. "Wobei ich schon sagen muss, bei einem zweiten Kind sieht alles um einiges positiver aus!", legt sie noch nach. Die Frau mag Kinder, keine Frage. Ich ja auch, nur, Kinder und Karriere, das ist, wie man allgemein weiß, ein echt schwieriger Balance-Akt. Diese Problematik können nicht einmal die Karten auflösen.

Beratung statt Hokuspokus

Ich ziehe nochmals, wieder mit der linken Hand, freue mich über die bunten Symbole und erwische erneut überraschend viele Große-Arkana-Karten. "Das ist interessant, ungewöhnlich", meint die Frau mir gegenüber. "Das sagen Sie sicher oft", versuche ich einen halblustigen Auflockerungsscherz. Nein, beteuert sie, man sehe halt, dass ich keine halben Sachen mache. Soll ich ihr nun sagen, dass ich diese Karten einfach schöner finde, so ganz ohne mystischen Background. Nein, so etwas passt hier nicht herein. Zumindest während ich mit ihr an einem Tisch sitze, sollte ich die Skepsis hintanstellen und versuchen, ihr zu glauben oder irgendwie zu folgen.

Sie behält mich gut im Auge. "Ich bin, wenn Sie so wollen, nur eine Übersetzerin, eine Vermittlerin zwischen den Welten. Ich kann Ihnen nicht sagen, was Sie tun sollen, nur was möglich wäre", erläutert sie.
Das hat sie schön gesagt. Dieser Tenor ist mir schon auf ihrer Website aufgefallen und hat mich motiviert, gerade sie zu besuchen: Beratungsgespräch statt magischer Session. Letzteres wäre mir wohl eher schwer gefallen. Dafür bin ich dann doch zu unernst. Und ernst gemeinte Magie, höherer Hokuspokus, das habe ich bemerkt, vertragen Humor und Lachen eher weniger.

Wir gehen in die letzte Runde, zwei Karten darf ich ziehen. Was mich bestärkt, womit ich arbeiten kann, und was war noch die zweite Karte? Schön langsam verliere ich den Überblick. So viele Karten! Irgendetwas Negatives war es wohl, vielleicht so eine Art Worst-Case-Szenario?

Jedenfalls liegt dort erst einmal der Narr. Der gefällt mir: Ein gut gelaunter junger Mann, der am Rande des Abgrunds tanzt und musiziert, ein kleiner, weißer Hund warnt ihn vor der Gefahr. "Diese Karte könnten Sie sich ausdrucken, aufhängen, sich immer wieder ansehen", meint sie. Der Narr stehe für Mut zum Chaos, Unbeschwertheit, sein Hund für die Intuition. "Versuchen Sie nicht immer, alles rational zu lösen! Die Welt, in der wir leben, ist nur scheinbar rational. Sie sind doch ein emotionaler Mensch, arbeiten Sie damit, konzentrieren Sie sich nicht nur auf Ihr Sicherheitsbedürfnis. Haben Sie Mut zum Chaos!", rät sie mir. Das trifft mich jetzt schon, habe ich mir doch zeitlebens eingebildet, ziemlich emotional zu sein. Aber Beruf und Familie haben mich wohl einigermaßen zurechtgeschliffen. Sie hat ja recht: Mach dich locker!

Eineinhalb Stunden sind vergangen, und ich kann echt nicht mehr! So viele Denkanstöße zu meiner persönlichen Lebenssituation, so viele Fragen, die mir ans Eingemachte gehen, so viel Aufmerksamkeit allein für mich hatte ich seit meiner späten Kindheit nicht mehr zu verdauen.

Also doch eine Art Psychotherapie. Wie auch immer, die Kartenlegerin war eine durchaus interessante Erfahrung, die ich erst einmal verdauen muss. Sind meine Erwartungen erfüllt worden? Jein. Das Kind in mir ist ein wenig enttäuscht, dass es nicht mehr Hokuspokus war, Räucherstäbchen hin oder her. Die Erwachsene hingegen ist erleichtert, dass nichts wirklich Bedrohliches am Tisch lag.

Wollte ich eigentlich eine eindeutige Antwort? Nein, tatsächlich will ich selbst entscheiden, wie es in meinem Leben weitergeht. Aber schön, wenn einem einmal jemand alle Möglichkeiten auf den Tisch legt, buchstäblich, als bunte Karten.

Print-Artikel erschienen am 2. November 2013
In: "Wiener Zeitung", Beilage "Wiener Journal", S. 4-8