Zum Hauptinhalt springen

Zwischen Ehre und Krankheit

Von Daniel Bischof

Acht Jahre Haft und Einweisung: psychisch Kranker soll 15-Jährigen niedergestochen haben, um Familienehre zu retten.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 6 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Wien. Die Bilder lassen Familie F. einfach nicht los. Das Bild des 15-jährigen Sohnes, der in der Wohnung blutüberströmt zusammenbricht. Das Bild des jungen Mannes, der auf dem Boden liegend um sein Überleben kämpft. "Diese schrecklichen Bilder sind weiterhin vorhanden", heißt es in einem Brief der Familie an das Gericht, den die vorsitzende Richterin Beate Matschnig im Gerichtssaal vorliest.

Für diese Bilder soll der 20-jährige C. verantwortlich sein. Der psychisch Kranke hat sich am Mittwoch wegen versuchten Mordes vor einem Geschworenengericht des Wiener Straflandesgerichts zu verantworten. Um die Familienehre wiederherzustellen, soll C. den 15-Jährigen am 21. Oktober 2016 vor dem Wohnhaus der Familie F. in Liesing niedergestochen haben. Der Jugendliche konnte sich gerade noch zurück in die Wohnung schleppen. Er überlebte die lebensgefährlichen Verletzungen nur dank einer Notoperation.

"Eine Abreibung verpassen"

Er habe den 15-Jährigen eigentlich für dessen älteren Bruder - den er eigentlich attackieren wollte - gehalten, gesteht C. Mit diesem älteren Bruder sei er jahrelang "richtig gut befreundet" gewesen, sagt der nun 20-Jährige mit türkischen Wurzeln. Doch dann sei der Kontakt zu ihm abgebrochen. "Ich habe mir eingebildet, dass er ein Verhältnis mit meiner Schwester hat", sagt C., der äußerst leise spricht.

"Das wäre ja nicht schlimm gewesen, weil ihre Schwester eine erwachsene Frau ist", sagt Richterin Matschnig. "Ich habe mich hintergangen gefühlt. Hinter meinem Rücken darf man das nicht machen", so C. Er habe seinen ehemaligen Freund daher mit einem Stich in den Fuß "eine Abreibung verpassen" wollen. Mordvorsatz habe er keinen gehabt. Am 21. Oktober sei er nachts wieder einmal wütend aufgewacht, schildert C. Nachdem er einige Gläser Whiskey trank - laut Untersuchung hatte er über zwei Promille intus -, habe er dem Bruder vor der Wohnung aufgelauert, ihn verfolgt und attackiert. Warum er dem Opfer sieben Mal in den Bauch und Oberkörper und nicht in den Fuß stach, kann er nicht erklären.

Er könne sich an die Tat nicht mehr genau erinnern, sagt C. Erst als das Opfer um Hilfe geschrien habe, sei ihm klar geworden, dass es sich um den jüngeren Bruder handle. Er sei davon ausgegangen, dass das Opfer nur schwer verletzt gewesen sei.

Paranoide Schizophrenie

Laut dem psychiatrischen Sachverständigen Peter Hoffmann leidet C. unter einer schweren sozialen Verhaltensauffälligkeit. Früh sei der Angeklagte von der Schule geflogen, da er mit einer Schere auf seine Mitschüler losgegangen sei. "Dazu kommt noch eine paranoide Schizophrenie", so Hoffmann. C. habe Stimmen gehört: "Er hat sich seine eigene Realität zusammengezimmert." Bereits vor der Attacke habe C. einen Psychiater aufgesucht. Die ihm verschriebenen Medikamente nahm der Angeklagte laut eigenen Angaben aber nicht ein, da sie ihn dick machten. Zum Tatzeitpunkt sei C. aber zurechnungsfähig gewesen: "Er hat das Unrecht seiner Tat erkennen und auch danach handeln können", sagt der Arzt. Er empfiehlt, C. aufgrund seiner Gefährlichkeit in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher einzuweisen.

Aufgeklärt werden konnte die Attacke nur zufällig. Fast ein Jahr lang waren die Ermittlungen im Sand verlaufen. C. wurde erst im September 2017 verhaftet, nachdem seine Schwester im Sommer 2017 zum Jugendamt flüchtete. Dort gab sie an, Angst vor ihrem Bruder zu haben. Dieser habe schon einmal "jemanden töten wollen". Die Familie von C. hat laut einem bei Gericht verlesenem Protokoll von der Messerattacke gewusst. Allerdings habe man beschlossen, Stillschweigen zu bewahren. Nachdem ein Raunen durch die Zuschauerbänke geht, hält Matschnig fest, dass dieses Verhalten nicht strafbar sei.

Unter Tränen schildert der 15-Jährige, dass seine Familie wegen der Ungewissheit in großer Sorge gelebt habe. "Wir haben uns gegenseitig nach Hause begleitet." Besonders um seinen kleinen Bruder habe er Angst gehabt. Erst seit man C. geschnappt habe, sei es besser geworden.

Die aus der Schweiz stammende Familie des Opfers prangerte in ihrem Brief an das Gericht auch die Medien an. So habe eine große Boulevardzeitung unverpixelt das Bild des 15-Jährigen veröffentlicht und fälschlicherweise behauptet, er habe Verbindungen zu einer Tschetschenen-Gang.

50.000 Euro Schadenersatz

Nach einer eineinhalbstündigen Beratung verurteilen die Geschworenen C. wegen versuchten Mordes zu acht Jahren Haft. Zusätzlich wird er in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher eingewiesen. Dem Opfer werden 50.000 Euro Schadenersatz zugesprochen. Das Urteil ist nicht rechtskräftig.