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In der Ostukraine verlieren die Menschen ihre Illusionen über die Separatisten, sagt der Sicherheitsexperte Mykola | Sungurowskij. Gleichzeitig fürchten sie die Zukunft - auch weil die Anti-Terror-Operation der Regierung zu kurz greift.
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"Wiener Zeitung": Die Anti-Terror-Operation der Kiewer Interimsführung, im Zuge derer sie gegen Aufständische in der Ostukraine vorgeht, ist nicht unumstritten. Fast täglich gibt es Berichte über zahlreiche Tote, die involvierten ukrainischen Sicherheitsorgane erweisen sich als ineffektiv. Geht die Führung hier den richtigen Weg?Mykola Sungurowskij: Das ist eine sehr komplexe Frage. Meiner Meinung ist das Problem etwas höher anzusiedeln. Das Ziel so einer Anti-Terror-Operation darf nicht sein, einfach nur die Terroristen zu beseitigen. Es muss viel umfangreicher sein. Aber so ein umfassendes Ziel hat die jetzige Regierung nicht. Das ist leider nichts Neues. 23 Jahre lang waren in der Ukraine nur Krisenmanager an der Macht. Im strategischen Management ist keiner ausgebildet. Aber jeder gute Stratege weiß, dass sein Management nur funktioniert, wenn es einen Fahrplan gibt, ein Endziel. So aber werden mit dem Versuch der Lösung eines Problems ein Haufen anderer geschaffen. Für ukrainische Krisenmanager ist das gut, für den Gesamtstaat aber sehr problematisch.
Was heißt das konkret für die Anti-Terror-Operation?
Nun, erstens müssten an so einer Operation nicht nur Spezialeinheiten teilnehmen, sondern alle politischen Kräfte des Landes. Die Sicherheitskräfte haben die Aufgabe, festzustellen, wer die radikalen Elemente sind - ich nenne sie jetzt so und verstehe darunter die Rebellen oder Separatisten, aber auch die kriminellen Banden, die ihnen dabei behilflich sind - und sie zu isolieren und unschädlich machen. Aber mit dem Rest der Bevölkerung müssen die Politiker arbeiten, und auch Psychologen und die Medien. Denn: Die radikalen Ideen sind bereits in die Köpfe der Massen eingesickert. Im Donbass bekam die pro-russische Bevölkerung vor allem russische Propaganda zu hören, die dort auf fruchtbaren Boden fiel. Die Menschen beginnen aber langsam zu verstehen, dass weder Russland noch die Separatisten Interesse an ihnen haben, sondern nur eigene Agenden verfolgen.
Das wäre für die Regierung doch eine große Chance.
Leider ist auch unsere Zentralregierung nicht viel anders, denn sie sieht das Volk nur als Wählerschaft an. Deshalb kann sie keine Einheit bilden. Viele Politiker sagen nach ihren Wahlkampfauftritten, sie seien im ganzen Land gewesen, auch im Donbass, in Luhansk. Aber was haben sie dort getan? Sie haben nur ihr Wahlprogramm propagiert - und damit die Bevölkerung weiter gespalten. Wenn die Gesamtaufgabe der Anti-Terror-Operation die Stabilität des Landes gewesen wäre und die Aufgaben für die politische Führung genau aufgelistet gewesen wären - inklusive Verantwortlichkeiten -, hätte man sich darauf einigen können, in den unruhigen Regionen geschlossen aufzutreten. Stattdessen haben die politischen Akteure so weiter zur Desintegration beigetragen.
Dabei haben die Menschen im Donbass im Grunde die gleichen Wünsche wie jene, die am Kiewer Maidan standen.
In der Tat. Womit ist man heute im Osten des Landes unzufrieden? Mit der Korruption, der misslichen Wirtschaftslage und dass das Zentrum zu viel Macht hat. Die Menschen auf dem Maidan standen genau aus denselben Gründen dort. Daher wäre es immens wichtig, den Bürgern mitzuteilen, dass die Forderungen im ganzen Land dieselben sind, dass man sie in ihren Zielen eint. Stattdessen wird im Wahlkampf ständig hervorgehoben, dass die russischsprachige oder ukrainischsprachige Bevölkerung unterdrückt und ausgebeutet wird. Die Oligarchen unterschieden doch auch nie, ob Russe oder Ukrainer - für sie waren, grob gesagt, alle Sklaven. Ein Sklave hat keine Nationalität.
Wäre dies nicht eine Aufgabe oder Möglichkeit des "Runden Tisches der nationalen Einheit"?
Ja. Aber hier wurde wieder der Fehler gemacht, dass am runden Tisch bisher nur Politiker teilnahmen. Wenn wir von einer Dezentralisierung der Macht sprechen, dann tritt als neues Objekt die Gemeinde, ein örtliches Gemeinwesen auf den Plan. Dies hätte man berücksichtigen müssen. Dann wären Leute aufgetreten, die die Meinung einer bestimmten Region ausdrücken hätten können. Derartige Vertreter braucht man bei solchen runden Tischen. Ihnen vertraut das Volk, nicht den Parteien. Wenn heute die Partei der Regionen erklärt, dass niemand dem Osten zuhört, dann meint sie in Wirklichkeit, dass ihnen niemand zuhört.
Diese Woche hat sich der Donezker Oligarch Rinat Achmetow - für viele zu spät und erst, seit sein eigenes Business bedroht ist - gegen die Aufständischen der von Rebellen selbst ausgerufenen "Donezker Volksrepublik" gestellt. Beobachten Sie ein Umdenken der Menschen im Osten, die die Rebellen unterstützt haben?
Das ist noch keine breite Bewegung. Stellen Sie sich vor, dass Sie in dieser Informationsblase und in dieser Angst leben, wie die Menschen in Donezk und Luhansk, die nicht wissen, ob sie aufgrund der instabilen Sicherheitslage ohne Probleme bis zum anderen Ende der Straße laufen können. Aber man merkt, dass sich eine gewisse Ernüchterung breitmacht, nicht zuletzt, weil die Menschen realisieren, dass ohnehin die Separatisten alles selber entscheiden. Viele haben den Aufständischen aber auch geholfen, deswegen haben sie gleich doppelt so viel Angst, sich gegen sie öffentlich aufzulehnen: erstens, weil sie sich durch die Abwendung von den Radikalen in Gefahr bringen, und zweitens, weil sie durch die ihnen zuvor erwiesene Hilfe zu einer gerichtlichen Verantwortung wegen separatistischer Tätigkeiten herangezogen werden könnten. Deshalb wäre es angebracht, dass die Regierung eine Generalamnestie verhängt, für diejenigen, die an Massenprotesten teilgenommen haben. Ausgenommen natürlich jener, die im Zuge dessen Verbrechen begangen haben.
Zur Person
Mykola
Sungurowskij
ist Experte für Sicherheits- und Konfliktfragen am Kiewer Think Tank "Razumkow Center". Der Oberst der Reserve berät auch das Komitee des Nationalen Sicherheitsrates.