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Zwischen Hafen und Himmel

Von Christian Pinter

Wissen

Vor 100 Jahren, am 6. Juli 1912, ging die einst hochgerühmte Sternwarte Hamburg-Bergedorf in Betrieb. Heute dient sie in erster Linie als Ausbildungs- und Besucherzentrum.


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"Schiffer, Packknechte und eine Unzahl von Freudenmädchen" - so sieht Johann Sajnovics 1768 Hamburg. Der Jesuitenpater besucht es gemeinsam mit Maximilian Hell, dem Gründungsdirektor der ersten Wiener Universitätssternwarte. Alles könne man hier kaufen, Waren aus den fernsten Gegenden der Erde; dennoch stünden den Kaufleuten Geldgier und Handlungssorgen ins Gesicht geschrieben, urteilt Sajnovics. Gerade wegen des Fernhandels sollte diese Hafenstadt ein offizielles Observatorium besitzen. Die Seefahrer brauchen astronomische Tabellen zum Navigieren. Doch es bleibt lange Zeit bloß bei privaten Initiativen, wie dem um 1721 eingerichteten Steerenkiker-Huus: Der erfindungsreiche Tischler Johann Bey-er betreibt es am Baumwall, nahe dem Binnenhafen.

"Meridiankreis"

1798 ernennt Hamburg den Geometer und Wassertechniker Johann Georg Repsold zum Spritzenmeister. Ihm unterstehen hunderte Feuerwehrleute. Zur Wartung der Löschgeräte betreibt Repsold eine Werkstatt, die er auch für andere Projekte nutzt. Er beweist außergewöhnliches Geschick beim Bau feinmechanischer Geräte: 1802 richtet er seine Fernrohre auf der Bastion Albertus zum Himmel, oberhalb der Landungsbrücken von St. Pauli.

Um die Lage der Sterne an der Himmelskugel exakt zu vermessen, setzt Repsold auf einen Meridiankreis: Dieses Spezialteleskop lässt sich nur in Nord-Süd-Richtung bewegen; dafür aber sehr exakt. Mit Hilfe der selbstgebauten Pendeluhr stoppt Repsold jene Zeitpunkte, zu denen Sterne durch die Mitte des Gesichtsfelds laufen. Das verrät die erste Sternkoordinate. Die zweite liest er an der fein gravierten, vertikalen Kreisskala ab. Wird hingegen der Durchgang von Sternen mit schon bekannter Position mitverfolgt, verrät der Meridiankreis die aktuelle Uhrzeit.

Napoleons Soldaten zerstören das private Observatorium 1812, doch als Vorstand der Feuerwehr bleibt Repsold im Amt. Nach dem Wiener Kongress drängt er den Stadtsenat zur Errichtung einer öffentlichen Sternwarte - und betont deren Nutzen für die Handelsschifffahrt. Mit Erfolg: 1826 ist dieses Institut, ein zweiflügeliger Bau am Millerntor, fertig. Repsold steuert die Feinmechanik bei, muss die Kosten für die Ins-trumente aber aus eigener Tasche oder mit Hilfe von Gönnern begleichen. Der frischgebackene Sternwartedirektor verunglückt nur vier Jahre später bei einem Löscheinsatz.

Repsolds Nachfahren betreiben die feinmechanische Werkstatt weiter, beliefern renommierte Observatorien in Europa. Auch die Mechanik der Teleskope in Wien-Ottakring wird von "Repsold & Söhne" stammen: Dort gründet der Industrielle Moritz von Kuffner eine Privatsternwarte, die unter anderem mit dem größten Meridiankreis der Donaumonarchie aufwartet.

Ein Seemann als Leiter

Die Hamburger Sternwarte beherbergt auch eine Navigationsschule. Direktor Charles Rümker kommt bei den Schülern sehr gut an. Er ist einst selbst zur See gefahren, hat dann in Australien als Astronom und als Farmer gearbeitet. Sogar einen der Bounty-Meuterer kennt er persönlich. Nachts vermisst Rümker die Koordinaten von 12.000 Fixsternen.

Sein Sohn George übernimmt 1866 die Nachfolge. Zum Einstand spendieren ihm Hamburger Kaufleute ein neues Teleskop aus dem Hause "Repsold": das Äquatorial. Dessen große Teilkreise dienen ebenfalls zur Bestimmung von Stern- oder Kometenkoordinaten. Anders als der Meridiankreis lässt sich das drei Meter lange Instrument aber in jede beliebige Richtung schwenken. Damit der Beobachter im Dunkeln nicht ständig mit Leitern hantieren muss, um zum Okulareinblick zu gelangen, kann er seinen höhenverstellbaren Sitz um das ganze Gerät herum bewegen - ohne dabei aufzustehen.

Ab 1876 stürzt eine schwarze Kugel vom Turm eines Speichers am Kaiserkai herab. Ihr drei Meter tiefer Fall dient Schiffern als weithin sichtbares Signal zum Einstellen der Bordchronometer, die zur Bestimmung des Längengrads auf See unentbehrlich sind. Ausgelöst wird der Zeitball von den Präzisionspendeluhren der Sternwarte; diese Uhren überwacht man nachts mit Beobachtungen am Meridiankreis.

Um die Örter von letztlich 200.000 Sternen abzustecken, teilt die internationale Astronomische Gesellschaft das Firmament in Zonen auf. Diese werden 19 Observatorien überantwortet. Die Kuffner-Sternwarte ist dabei, Hamburg noch nicht. In Wien-Ottakring studiert man außerdem jene rätselhaften, winzigen Schwankungen der geografischen Breite, die der Deutsche Karl Friedrich Küstner 1885 entdeckt hat. In Hamburg beklagt sich Küstner nach dem Blick durch das Äquatorial über störende Vi-brationen, die vom lebhaften Wagenverkehr herrühren. Auch der Dampf der Schiffe, der Qualm der Fabriken und die Beleuchtung von St. Pauli geraten immer mehr zum Ärgernis.

Ein wüstes Stück Land

Also sucht man einen neuen Flecken Land - für gewöhnliche Zeitgenossen "ziemlich wertlos" und für Astronomen daher "außerordentlich geeignet". Gefunden wird er südöstlich der Stadt auf einem 40 Meter hohen Hügel in Bergedorf. Um Baukosten zu sparen und gegenseitige Störungen zu vermeiden, werden die Teleskope dort in getrennten Kuppelgebäuden aufgestellt. Das alte Äquato-rial übersiedelt samt dem hölzernen Beobachterstuhl.

Der neue Große Refraktor ist mit seinem 60 cm weiten Objektiv nur wenig schmächtiger als das Hauptinstrument der Wiener Universitätssternwarte; und die besaß bis 1885 immerhin das mächtigste Linsenfernrohr der Welt.

In Bergedorf studiert Kasimir Graff mit diesem Refraktor den Mond, den Mars und den Saturnring. Um die Forscher zum Tele-skopeinblick zu heben, stemmen Motoren den ganzen Fußboden des Kuppelbaus in die passende Höhe. Graff wird später die Leitung der Wiener Universitätssternwarte übernehmen - und eine solche, recht bequeme Hebebühne auch dort einbauen lassen.

Das neue, 100 cm weite Spiegelteleskop in Bergedorf ist das größte in Deutschland. Der in Hamburg geborene Kaufmann Eduard Lippert stiftet außerdem ein fotografisches Fernrohr, das eigentlich seine Privatsternwarte schmücken sollte. Das solcherart bestens bestückte Observatorium geht am 6. Juli 1912 offiziell in Betrieb - als eines der modernsten Europas.

Tagsüber trifft man die Forscher in der zweistöckigen Bibliothek des schlossartigen Hauptgebäudes; unter anderem Arno Wachmann oder den später vielgerühmten Walter Baade. Auch deren Lehrer waren einst an der Wiener Kuffner-Sternwarte tätig. Franz Dolberg hat dort ebenfalls jahrelang gearbeitet: Jetzt wechselt er in Bergedorf zwischen dem Äquatorial und dem lichtstarken Meridiankreis hin und her, um Rümkers Sternkatalog von 1845 neu zu bearbeiten.

Ein ganz spezieller Mitarbeiter ist Bernhard Schmidt. Auf einer Insel vor Tallinn geboren, kosteten ihm jugendliche Experimente mit Schießpulver die rechte Hand; mit der linken schleift er die besten Teleskoplinsen und Spiegel. Es scheint, als könne er feinste Ungleichheiten mit den Fingerspitzen fühlen. Direktor Richard Schorr holt ihn nach Bergedorf. Dort fertigt Schmidt 1930 eine neuartige, eigentümlich geschliffene Korrekturplatte an. Befestigt man diese dünne Linse vor dem Teleskopspiegel, werden die Sternchen selbst am Rand der Fotoplatten unverzerrt abgebildet. Diese Schmidtplatte tritt einen wahren Siegeszug an. Sie kommt folglich auch an der Wiener Universitätssternwarte zum Einsatz.

Arnold Schwassmann montiert ein Prisma vor dem Lippert-Teleskop. Es verwandelt alle Sternchen in kleine "Regenbögen". So bannt Schwassmann die Spektren von insgesamt 150.000 fernen Sonnen auf Fotoplatten. Außerdem nimmt man den einstigen Zonenkatalog der Astronomischen Gesellschaft nochmals in Angriff: Diesmal mit fotografischen Mitteln und unter Beteiligung der Hamburger Wissenschafter. Beim Vergleich der Positionsangaben im alten und im neuen Katalog erschließt sich die unterschiedliche Eigenbewegung vieler Fixsterne im Weltraum.

Im Zweiten Weltkrieg berechnet man in Bergedorf Gestirntabellen für die Navigatoren der Deutschen Luftwaffe - im Voraus und gleich bis 1960. Die Sonnenbeobachtung wird intensiviert. Solare Phänomene, so betonen die Astronomen, könnten den militärischen Funkverkehr stören. Wie Sternwarte-Chef Otto Heckmann beteuert, sei man an "kriegswichtigen", ja "kriegsentscheidenden" Arbeiten beteiligt: Diese Behauptung bewahrt so manchen Kollegen vor dem Fronteinsatz.

Später erhält das Observatorium noch einen 1,2 Meter großen, lichtstarken Schmidt-Spiegel. Doch da ist Bergedorf längst zu einem Hamburger Stadtteil geworden. Bebauung und Lichterflut holen die Forscher abermals ein; diesmal endgültig. Das empfindliche Instrument wandert 1976 nach Spanien aus.

Historische Schätze

"Im Lauf der Jahrzehnte haben sich 35.000 Fotoplatten angesammelt", erzählt Detlef Groote. Die älteste stammt vom 1. Dezember 1911. Groote digitalisiert das historisch und wissenschaftlich wertvolle Fotoarchiv und macht es im Internet verfügbar. Spaziert man mit ihm über das Gelände, öffnet sich der Blick auf die verstreuten Kuppelgebäude erst nach und nach. Dazwischen sind Bäume in den Himmel geschossen.

Obwohl die Sternwarte seit 1996 unter Denkmalschutz steht, ist die Bewahrung der alten Ins-trumente eine Herausforderung. Geforscht wird damit nicht mehr. Stattdessen bildet man Studenten aus, arbeitet an theoretischen Problemen und analysiert Daten, die anderswo gewonnen wurden. Seit kurzem existiert ein neues Besucherzentrum für all jene, die in die Geschichte der Sternwarte eintauchen wollen. Als stimmige Lektüre dazu empfiehlt sich Jochen Schramms exzellentes Sachbuch "Sterne über Hamburg" (Kultur- & Geschichtskontor).

Christian Pinter, geboren 1959, lebt als Fachjournalist in Wien und schreibt seit 1991 über astronomische Themen im "extra". Internet: www.himmelszelt.at