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Zwischen High Tech und Slow Food

Von Peter Kantor

Wirtschaft

Barock ist in Turin nur das Stadtbild. Die Hauptstadt des Piemont gilt als der High Tech-Standort Italiens. Der Zuschlag für die Olympischen Winterspiele 2006 wird der boomenden Wirtschaft und Industrie der Region noch weiteren Auftrieb geben. Doch wo viel Licht ist, ist auch Schatten. Für Randgruppen, insbesondere die zahlreichen Einwanderer, führt oft kein Ausweg aus Illegalität und Arbeitslosigkeit.


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Unter den innenstädtischen Arkaden der Altstadt lässt es sich vortrefflich - und regensicher - flanieren. Vom Palazzo Real zum Po, von der Porta Nuova zur Piazza San Carlo, reihen sich auf 18 überdachten Kilometern exquisite Designerläden an duftende Konditoreien und mondäne Bars. Turin ist eine Stadt, die nicht nur vieles hat, sondern auch eine, die vieles (mit) erfunden hat. Den Aperitif zum Beispiel (Cinzano, Martini & Rossi und Carpano kommen aus der Region), die schokoladenumhüllte Kirsche (hier hat Ferrero seinen Hauptsitz), den besten Kaffee (Lavazza stammt aus Turin) oder auch die wichtigste italienische Automarke, Fiat.

Die verkehrsberuhigten Zonen der City täuschen nicht lange über das in Turin angesagte Tempo hinweg. Die Haupstadt des Piemont hat sich in den vergangenen Jahrzehnten mit Beharrlichkeit zu einer der wirtschaftlichen Großregionen Europas mit Fokus auf High-Tech-Bereiche entwickelt. Gegenwärtig sorgen die Vorbereitungen für die XX. Olympischen Winterspiele im Jahr 2006 für zusätzliche Impulse. Die Investitionen von staatlicher Seite betragen umgerechnet über acht Mrd. Schilling, insgesamt dürfte ein vielfaches dieser Summe bewegt werden.

Stadt der Forscher

Die Industriebetriebe der Region setzten schon in der Vergangenheit internationale Standards im Automobil- und -zuliefersektor, bei Robotern und Industrieautomatisierungen, bei Design und Textil, im Nahrungsmittelbereich, bei Banken und Versicherungen sowie in der Informatik und Telekommunikation. Zu keinem Zeitpunkt verließ man sich auf die Lorbeeren als "old industrial town", sondern konzentrierte sich auf Innovationen, im Industriesektor ebenso wie auf hoher Dienstleistungsebene. Mit dem Resultat, dass die regionalen Forschungs- und Entwicklungsausgaben heute 20 Prozent der nationalen Ausgaben betragen (von den privaten Forschungsausgaben sogar 30 Prozent), und das, obwohl die 4 Millionen Einwohner der Region nur 7,5 Prozent der Einwohnerzahl Italiens stellen.

Weitere beeindruckende Hard-Facts: In der Region sind rund 400.000 Unternehmen angesiedelt, die ein Exportvolumen von 24 Mrd. US-Dollar aufbringen (13,3 Prozent aller italienischen Exporte), davon 27 Prozent im High-Tech-Bereich. Mit über 17 Prozent der Angestellten und Arbeiter im letztgenannten Sektor hält man so nicht nur die erste Position in Italien, sondern auch einen Top-Ten-Rang unter den Regionen Europas. Oder, wie Claudio Barbero, Exportchef im Industrieverband Turin stolz formuliert: "Turin ist auf dem besten Weg, eine New-Economy-Hauptstadt zu werden."

Top im Automobilsektor

Ohne die lange Reihe innovativer und international erfolgreicher Unternehmen anderer regionaler Industriebranchen in ihrer Bedeutung herabsetzen zu wollen: Ohne die Automobilbranche und ihre Vorzeigebetriebe wäre Turin nicht Turin.

Allen voran befindet sich hier der Sitz der 1899 von Giovanni Agnelli gegründeten Fiat-Gruppe, der wichtigsten italienischen Industriegruppe. In den Werken Rivalta, Mirafiori und Turin laufen die neuesten Modelle vom Band, wichtiger noch, hier sitzen Management und Forschungszentren des weltweit sechstgrößten Automobilherstellers. Die größte Fabrik des Landes, Mirafiori, kann für sich in Anspruch nehmen mit der Produktion von Millionen von Topolinos, Seicentos und Cinquecentos Italien zu einem Autoland gemacht zu haben.

Im Umfeld von Fiat hat sich im Lauf der Jahrzehnte eines der größten Zentren der Autozulieferindustrie etabliert. Die Region ist eine von wenigen weltweit, wo Automobile von Design über Konzeption und Produktion vollständig realisiert werden können. Tausende Beschäftigte in 300 piemontesischen Unternehmen decken alles ab, was die internationalen Autohersteller an Teilen und Know How brauchen und das in bester Qualität.

Die Liste der renommierten Firmen ist entsprechend lang. Am Anfang stehen die exklusiven Designer Pininfarina, Bertone, I.D.E.A., Ghia oder Giugiaro, deren Modelle bei den internationalen Automobilsalons immer in der ersten Reihe stehen. Auf sie folgen Hersteller von Fertigungs- und Robotersystemen wie etwa Fata, Rambaudi und Dea. Nicht zu vergessen die lange Liste von Systemzulieferern, unter ihnen Unternehmen wie S.E.F.I. und Graziano Trasmissioni, bei denen sich die Creme de la Creme der Automobilhersteller für innovative Komponenten anstellt.

Werbung um Investoren

Mit den Olympischen Spielen 2006 rückt Turin und damit Wirtschaft und Industrie der Region Piemont noch stärker ins Rampenlicht. "Jetzt ist der richtige Moment, sich mit seinem Unternehmen hier anzusiedeln", wirbt Andrea Pininfarina, Präsident der ITP, der Investitionsagentur für Turin und Piemont. Und streicht einmal mehr die Assets der Region hervor: eine ideale Verbindung von traditioneller und New Economy, ausgezeichnete Fachkräfte, relativ niedrige Arbeitskosten innerhalb der hoch entwickelten Industrieländern, eine hohe Produktivität und Produktqualität sowie eine strategisch ideale Position zwischen Nordeuropa und dem mediterranen Raum.

Nicht zu vergessen sei die hohe Lebensqualität von Turin und Umgebung. Um diese etwa in gastronomischer Hinsicht auch für die Zukunft zu sichern, wurde im Piemont die "Slow Food"-Bewegung ins Leben gerufen. Mit der Schnecke als Symbol will man sich hier dem Fast-Food-Trend entgegensetzen und sich wieder stärker auf die traditionelle Esskultur besinnen.

Magnet für Einwanderer

Probleme ganz anderer Art haben die Tausenden illegalen Einwanderer, die Turin ebenso wie andere reiche norditalienischen Industriezentren bevölkern. Über die Grenzen zu Slowenien und Kroatien drängen vor allem Osteuropäer (Rumänen, Ukrainer), aber auch Asiaten in die Region. Dem italienischen Innenministerium zufolge warten in Ungarn, Serbien und Kroatien -zig Tausende Chinesen auf eine Gelegenheit, über die Schengen-Ostgrenzen in die EU einzusickern.

Obgleich die Akzeptanz von Einwanderern in Italien höher ist als in anderen EU-Staaten, kam es unter dem Aufhänger ohnehin schon bestehender Arbeitslosigkeit auch in Turin immer wieder zu Gewalttätigkeiten zwischen den Immigranten und lokalen Einwohnern. Die Immigranten wurden beschuldigt, Rauschgift zu verteilen und sich durch Prostitution zu bereichern.

In der Region Piemont beträgt die Arbeitslosenquote unter 10 Prozent, deutlich weniger als im landesweiten Durchschnitt. Das Problem der Jugendarbeitslosigkeit - in Italien ist laut OECD jeder dritte Jugendliche unter 24 Jahren arbeitslos - hat aber auch die reiche Region noch nicht im Griff.

Bildungselite

Um die Perspektiven am Arbeitsmarkt zu verbessern, will Turins neue Stadtregierung - Sergio Chiamporino vom Ulivo-Bündnis gewann die Stichwahl im Mai 2001 gegen einen Vertreter des Berlusconi-Bündnisses - noch stärker als bisher Aus- und Weiterbildung fördern.

Schon in der Vergangenheit scheinen Stadt und Region in dieser Hinsicht vieles richtig gemacht zu machen. Immerhin verfügt der Piemont über mehr als 100 Fachhochschulen, Kollegs, private und öffentliche Post-Graduate-Bildungsstätten. Allen voran stehen die Universitäten von Turin, Ost-Piemont, sowie das Polytechnikum Turin. Während die Universität Turin mit mehr als 60.000 Studenten aufgrund ihres Austauschprogramms und Netzwerkes international gefragt ist, gilt das Polytechnikum als europaweit führendes Institut bei technisch-wissenschaftlicher Forschung und Trainingsprogrammen und beherbergt etwa auch die erste europäische Fakultät für Autoingenieurswesen.

Als Folge der konsequenten Bildungspolitik haben sich in der Stadt eine Reihe von internationalen Institutionen mit dem Schwerpunkt Arbeit und Bildung angesiedelt, unter ihnen das Trainings- und Forschungscenter der ILO (Internationalen Arbeitsorganisation), das Team-Kolleg der UNO und die IPSET (Internationaler Stab für Bildung und Weiterbildung).

Information:

ITP (Investitionsagentur): Tel. (0039) 0118170864; http://www.itp-agency.org

Wirtschaftskammer Piemont: Tel. (0039) 0116700; http://www.centroestero.org

Industrieverband Turin: Tel.(0039) 0115718421; http://www.ui.torino.it

Anfia (Automobilherstellerverband): Tel. (0039) 0115546505; http://www.anfia.it