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Zwischen Mao und Monarchie

Von Peter Kantor

Politik

Im Vorjahr wurde weltweit das 50-Jahres-Jubiläum der Erstbesteigung des Mount Everest gefeiert. Das Land ringsherum, Nepal, war nur für einen kleinen Teil der Öffentlichkeit ein Thema. Wohl deshalb, weil die Lage alles andere als zum Feiern verleitet hätte. Denn seit der Beendigung des Waffenstillstands zwischen Maoisten, Regierung und König im Sommer 2003 stehen Anschläge und Kämpfe im Land an der Tagesordnung. Vor dem Hintergrund explodierender Bevölkerungszahlen, instabiler Machtverhältnisse, fehlender Rechtssicherheit, sanitär und sozial katastrophaler Zustände erscheint die Zukunft der Nepalesen damit ungewisser denn je.


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Die Wegsperre der Maoisten merken wir erst, als es zu spät ist. Drei scheinbar unbewaffnete, untersetzte Männer halten die passierenden Wanderer auf und fordern Wegzoll. Wir sind auf einer der meistbegangenen Trekkingrouten im Land unterwegs, im Annapurna-Massiv auf 2.900 m Höhe zwischen Birethanti und Ghorepani. Die Männer verlangen 2.000 "Rupies", rund 25 US-Dollar, nur Einheimische werden durchgewunken. Im ersten Impuls will ich - ohne zu zahlen - weitergehen, Ramchandra, mein "Guide" hält mich aber zurück. Gleich darauf weiß ich, warum. In zwanzig Metern Entfernung übt eine weitere Maoisten-Gruppe Bogenschießen - auf große Distanz und mit erstaunlicher Treffsicherheit.

Während wir auf unsere Abfertigung warten, verhandelt eine aus zehn Personen bestehende, holländische Reisegruppe gerade mit dem Anführer der Gruppe. Nach längerem Hin und Her einigt man sich auf einen Wegzoll von 1.000 Rupies pro Person. In Nepal ist selbst in Guerillakreisen "Bargaining" selbstverständlich.

Ich will auch diesen Betrag nicht zahlen und fange eine Diskussion an. Dem Maoisten-Chef gefallen meinte Argumente nicht, er schreit mich an. Einer seiner Genossen macht klar, dass man mit Querulanten auch anders umgehen kann und zeigt eine Handgranate, die er lose in der Hosentasche trägt. Ich lasse mich beeindrucken und bezahle die "Charge". Dafür erhalte ich einen handschriftlichen "Passierschein" im Briefmarken-Format. Es garantiert, dass ich bei anderen Checkpoints nicht erneut in die Tasche greifen muss.

Die in die Illegalität gedrängte Maoistische Communists Party of Nepal (CPN-M) kontrolliert seit einigen Jahren fast den gesamten Westen des Landes sowie weite Bergregionen. In unwirtlichen Gegenden sind sie für Armee und Polizei mit ihren schweren Waffen und Fahrzeugen unerreichbar. Auch hier im Annapurna-Bergland hätten die Regierungstruppen nichts zu vermelden, sie sind daher auch nicht vorhanden.

Den Wegzoll wird von den Maoisten als eine Art Steuer gesehen. Das Geld werde für arme Leute, für Nahrung, Gesundheitsversorgung und Schulen verwendet, beteuern sie.

Die Begegnung mit den Maoisten in der Berglandschaft des Annapurna bleibt die einzige während meines mehrwöchigen Nepal-Aufenthalts. Touristen, die Bergregionen, politische Gespräche und das Lesen von Tageszeitungen meiden, bekommen den bewaffneten Konflikt im Land meist gar nicht mit. Selbst individuelles Reisen ist im Land grundsätzlich ungehindert möglich, Wartezeiten bei Kontrollstellen werden aber häufiger.

Aggression ist im nepalischen Alltag trotz des schwelenden Konflikts ein Fremdwort. Selbst in den Bevölkerungs- und Touristenzentren wie der Trekker-Hochburg Pokhara oder der Hauptstadt Katmandu fühlt man sich nie bedroht, niemals wird man willentlich gestoßen und nur selten hört man ein unfreundliches Wort. Auf den Punkt bringt diese Gesinnung die häufigste Grußformel im Land: "Namasté" steht für Respekt und dieser soll jedem entgegengebracht werden - vor allem gesellschaftlich "höher stehenden" Personen, zu denen auch die hofierten, reichen, ausländischen Touristen gezählt werden.

Auf der Straßen Katmandus spürt man von diesem Respekt schon weniger. Man fährt auf der Gegenfahrbahn, im Straßengraben, auf nicht vorhandenen Gehsteigen auf alles zu, was sich bewegt, Autos, Passanten, Radfahrer und weicht erst in letzter Sekunde aus - was meist vom Schwächeren erwartet wird. Die Strassen sind staubig und abgasverseucht, der wenige Asphalt von tiefen Schlaglöchern durchsetzt. Uralte Tatas (indische Busse), südkoreanische Kleinwagen, mit bis zu 10 Leuten besetzte, dreirädrige Scooter drängen gegen Fahrrad-Rikschas, Maultiere und Fahrräder aller Art. Kühe schlendern ums Eck und man tut gut daran, sie im Respektabstand zu umfahren. Für Hindus sind sie heilig, wer eine überfährt, riskiert bis zu 17 Jahren Haft.

Detail am Rande: soweit erkennbar herrscht Linksverkehr.

So harmonisch und friedvoll ganz Nepal wirkt, so gleichmütig und positiv seine Bewohner mit der Armut umgehen, so groß sind die Probleme unter der Oberfläche. Neben den kämpferischen Auseinandersetzungen, die vor allem Polizei, Armee und Bergregionen betreffen, bremsen Bevölkerungsexplosion, instabile Machtverhältnissen, fehlende Rechtssicherheit, sanitär und sozial katastrophale Zustände die Entwicklung des Landes.

Trotz großzügigen Entwicklungshilfegeldern, vor allem aus der EU, Weltbank- und anderen institutionellen Projekten kann sich das Land weder von der Abhängigkeit (vor allem von Indien) befreien, noch vorhandenes wirtschaftliches Potential (an erster Stelle der Ausbau der Wasserkraft) nutzen. Die Kindersterblichkeit ist nach wie vor extrem hoch, ebenso die Analphabetenrate. Lebenserwartung und Pro-Kopf-Einkommen gehören zu den niedrigsten weltweit (siehe "Nepal, Fakten")

Mike, der als Reiseführer in Katmandu arbeitet, verdient etwa 300 US-Dollar pro Monat, das Durchschnittseinkommen schätzt er aber auf nur 2.500 bis 5.000 Rupies (30 bis 60 Dollar) pro Monat. Selbst 5.000 Rupies seien aber für eine Familie zum Überleben viel zu wenig. Auch zum Thema Gesundheit will Mike etwas zu sagen: "Wir haben aufgrund des verschmutzten Wassers großen Hygieneprobleme. Da es keine staatliche Krankenversicherung gibt, können viele Familien die notwendige Behandlungen - etwa der immer noch auftretenden Tuberkulose - nicht bezahlen."

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Nepal - die Fakten

Das Land

Das Königreich Nepal liegt zwischen dem von China okkupierten Tibet und Indien. Die Fläche beträgt 147.181 km2, es dominieren Hochebenen und im Norden der nepalische Anteil am Himalaya-Massiv (8 der 14 Achttausender weltweit). Die rund 24 Millionen. Einwohner teilen sich in 60 Kasten und Volksgruppen, rund 80% der Bevölkerung sind Hindus, 8% Buddhisten und 4% Moslems. Mehr als 60% der Nepali sind Analphabeten, die Säuglingssterblichkeit liegt bei 8% und rund 50% der Kinder leiden unter Mangel- oder Unterernährung. Die Lebenserwartung liegt bei 57 Jahren. Auf einen Arzt kommen 25.000 Einwohner (in Deutschland: 335).

Die Wirtschaft ist in hohem Maß von Indien abhängig, landwirtschaftlich dominiert (40% des BIP), Industrie gibt es nur wenig. Der Tourismus, eine wichtige Einnahmequelle, hat unter den Konflikten gelitten, 50% der Bevölkerung leben laut UNO unter der Armutsgrenze, das Bruttosozialprodukt pro Person und Jahr liegt bei 240 US-Dollar (Österreich: ca. 30.000 US-Dollar). In ländlichen Gebieten haben viele Menschen nicht einmal das gesetzliche Mindesteinkommen von rund 30 US$ pro Monat zur Verfügung.

Die Politik

Das 1990 nach Massendemonstrationen installierte Parlament wurde vor zweieinhalb Jahren von König Gyanendra Bir Bikram Shah Dev aufgelöst. Die alte Regierung ist zwar nach wie vor aktiv, die Macht hat aber de facto der König. Unter den friedliebenden Nepali, deren Gros nichts mit der Politik zu tun haben will, gelten die Politiker als korrupt und machtbesessen. Die Parteien sind zerstritten, Regierung und König sind uneins, beide bekämpfen die "Maoisten", die CPN-M. Sie proklamierte 1996 den Volkskrieg zur Durchsetzung einer Bauernrepublik, was die politische Lage im Land dramatisch verschärfte. In der Folge schränkte die Regierung die Presse- und die Versammlungsfreiheit ein, Zeitungen wurden verboten und über 100 Journalisten inhaftiert.

Der kriegerische Konflikt betrifft vor allem Armee, Polizei und Maoisten, zunehmend kommen aber auch Zivilisten bei den Bombenanschlägen zu Schaden. Seit der einseitigen Aufhebung des Waffenstillstands durch die Maoisten im Sommer 2003 hat sich die Lage erneut verschlechtert. Geschätzte 7.000 Menschen sind bei Kampfhandlungen seit 1996 umgekommen.