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"Zwischen Mitgefühl und Angst"

Von Siobhán Geets

Politik

Jobs und Bildung für Flüchtlinge sind unabdingbar, sagt Melissa Fleming. Die UNHCR-Sprecherin über | den Mangel an Hilfsgeldern, den Rechtsruck in Europa und Alternativen jenseits der Angstmache.


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"Wiener Zeitung": Mit dem Abkommen zwischen der EU und der Türkei ist die Zahl der ankommenden Flüchtlinge tatsächlich zurückgegangen. Ist der Deal die ideale Lösung für unsere Probleme?Melissa Fleming: Wir stehen dem Deal der EU mit der Türkei kritisch gegenüber. Wir wollten nie, dass Flüchtlinge gefährliche Überfahrten auf sich nehmen müssen und Schmuggler profitieren. Wir brauchen andere Fluchtwege. Die Lösung besteht aus mehreren Punkten. Erst einmal sollte es in der EU ein organisiertes Ankommen für Flüchtlinge geben. Das ist nie passiert. Zweitens sollte daran gearbeitet werden, dass sich der Anreiz zur Flucht verringert. Jedes Jahr teilen wir der Weltgemeinschaft mit, wie viel Budget wir brauchen, damit wir Flüchtlingen ein würdiges Leben ermöglichen können. Am Ende jedes Jahres haben wir dann 50 Prozent der Förderungen erhalten. In der Praxis bedeutet das, dass etwa im Libanon 70 Prozent der syrischen Flüchtlinge in kläglicher Armut leben.

Sie fordern auch seit Jahren, dass Flüchtlinge in den Nachbarstaaten arbeiten dürfen...

Mangelnde Arbeitserlaubnis ist ein großes Problem. Aus Alternativlosigkeit schicken viele ihre Kinder zum Arbeiten vor, sie werden sehr schlecht bezahlt. Wir haben hier eine große Gruppe von Menschen, die es gewohnt waren, ihre Kinder in gute Schulen zu schicken - plötzlich können sie das nicht mehr. Nur 50 Prozent der Flüchtlingskinder besuchen eine Schule. Das ist der Grund, warum die Menschen nach Europa wollen. Sie können es sich vorstellen, für ein oder zwei Jahre in einem Zelt zu wohnen, wenn es die Hoffnung auf Heimkehr gibt und ihre Kinder in die Schule gehen können. Bekämen sie einen Job, würden viele es vorziehen, in der Region zu bleiben.

In der Türkei sollen Syrer künftig arbeiten dürfen.

Wir begrüßen dieses neue Gesetz. Nun bleibt abzuwarten, ob die Arbeitgeber es umsetzen. Syrer werden meist schlechter bezahlt als Türken, wir werden sehen, ob sie künftig den Mindestlohn bekommen. Abzuwarten bleibt auch, wohin das Geld der EU fließt, ob es in Schulen investiert wird. Zudem müssen wir sehen, ob die Umsiedlung aus der Türkei in andere Staaten funktioniert. Noch gibt es keine große Bereitschaft, Flüchtlinge im Zuge des Resettlements aufzunehmen.

Sie sagten bei Ihrer Rede im Kreisky Forum, 2015 war ein übles Jahr, doch nun sei die Situation noch schlimmer. Was meinen Sie, wenn Sie sagen, es habe eine heftige Gegenreaktion gegeben?

Als die Menschen 2015 nach Europa kamen und sich abzeichnete, dass nur drei Staaten sie in großer Zahl aufnehmen, nämlich Österreich, Deutschland und Schweden, haben wir vorhergesagt, dass das längerfristig politisch und öffentlich nicht akzeptiert wird. Zudem glauben wir nicht, dass irreguläre Migration ohne jegliche Registrierung und Überprüfung schlau ist. Wir schlugen vor, dass die EU große Zentren in Griechenland und Italien einrichten soll. Diese sogenannten Hotspots sind aber nie richtig in Gang gekommen. Wir haben auch einen politischen Gegenschlag vorhergesagt, der von einigen Geschehnissen begünstigt wurde: Die Anschläge von Paris, die Geschehnisse von Köln in der Silvesternacht, mit denen Flüchtlinge in Verbindung gebracht wurden - das alles hat die Stimmung verändert. Rechte Politiker bekamen haufenweise Munition für ihren politischen Kampf. In manchen Staaten, darunter Österreich, sind selbst Politiker, die zuerst von Mitgefühl sprachen und von den Werten Europas, umgekippt aus Angst vor Stimmenverlusten: Wenn wir nicht Ungarn kopieren, dann verlieren wir die Wähler an die Rechten. Was ist passiert? Die Menschen wählen rechts und die Parteien, die ihre Position wechselten, verlieren.

In Österreich, das Sie als Ihre Heimat bezeichnen, schnitt die FPÖ bei der Präsidentenwahl überraschend gut ab. Inwiefern hat das mit der Flüchtlingsdebatte zu tun?

Es ist gefährlich, aber bequem, die Anderen für alles verantwortlich zu machen, was in einem Land falsch läuft. Was hier passiert, ist ein Spiel mit den Ängsten der Menschen, um Wählerstimmen zu bekommen. Es gibt sehr wenige Beweise dafür, dass Flüchtlinge in Verbindung mit Terrorismus stehen oder hier sind, um Straftaten zu begehen. Leider steht aber genau das als Narrativ im Vordergrund. Das macht vor allem jenen Angst, die keinen Kontakt zu Muslimen haben. Es ist besorgniserregend, dass manche Politiker das ausnutzen.

Die SPÖ wirft ihrem ehemaligen Kanzler Werner Faymann unter anderem vor, in der Flüchtlingsfrage nicht klar Stellung bezogen zu haben. Sie vergleichen die Haltung der SPÖ mit jener des kanadischen Premiers Justin Trudeau.

Manche Politiker sind offen für Flüchtlinge, werden ihren Werten gerecht - und bleiben attraktiv für Wähler. Der junge, dynamische kanadische Premier hat angekündigt, 25.000 Syrer in vier Monaten aufnehmen zu wollen - und hat damit die Wahl gewonnen! Kanadas Presse hat ihn kritisiert, weil es ihr mit den Flüchtlingen nicht schnell genug ging.

Bei uns sieht das anders aus ...

Ja, aber auch in Österreich war die Stimmung den Flüchtlingen gegenüber am Anfang sehr positiv. Die Menschen wurden willkommen geheißen. Dann kam die Spaltung zwischen Mitgefühl und Angst. Manche Politiker waren nicht selbstbewusst genug, die Wähler mit Mitgefühl zu überzeugen. Sie haben sich für die Angst entschieden.

Einige Politiker, darunter Außenminister Sebastian Kurz, sagen nun, dass man die Nachbarländer Syriens mehr unterstützen muss, damit sich die Menschen gar nicht erst auf den Weg machen. Merken Sie etwas von diesen Bekundungen?

Die Geberkonferenz in London, bei der für Syrien sechs Milliarden Dollar für heuer beschlossen wurden, war zwar vielversprechend. Bisher sind aber erst 19 Prozent davon eingelangt. Wir befürchten, dass die Versprechen nicht eingehalten werden. Wir hoffen, dass Aufnahmeländer wie der Libanon, der 1,2 Millionen Flüchtlinge bei einer Einwohnerzahl von vier Millionen aufgenommen hat, mehr unterstützt werden. Also ja: Wir stimmen mit Außenminister Kurz überein. Aber es muss ein Paket von Maßnahmen her: Arbeitserlaubnis für Flüchtlinge, Unterstützung für Aufnahmeländer und den UNHCR, Aufnahme von Flüchtlingen über legale Wege.

Welche legalen Wege zum Asyl sehen Sie für Flüchtlinge?

Viele syrische Studenten sitzen in den Nachbarländern und können nicht weiterstudieren - aus Geldmangel oder wegen Zugangsbeschränkungen. Studentenvisa wären nicht nur eine großartige Option für die betroffenen Studenten. Sie würden auch dazu beitragen, Syrien irgendwann wieder aufzubauen. Man investiert dabei in die Zukunft eines stabilen Syriens, in dem sich die Menschen mehr für den Wiederaufbau interessieren als für Rache. Zudem könnten Arbeitsvisa für bestimmte Bereiche ausgegeben werden, für die Bedarf besteht. Das wäre eine Win-win-Situation. Wir drängen auch dazu, den Familiennachzug zu erleichtern. Jeder, der bereits Familie im Land hat, ist eine geringere Belastung für den Staat, weil Familien Strukturen bieten.

Das hat Österreich mit der Reform des Asylgesetzes eben erschwert.

Das tut uns sehr leid. Ich habe eben ein Buch über eine Frau geschrieben, die aus Syrien floh. Wir haben es geschafft, sie nach Schweden zu bringen und ihre Familie aus Ägypten nachzuholen. Der Vater wird immer wieder ins Spital eingeliefert, er ist gestresst, weil er an seine Töchter denkt, die noch in Syrien sind. Flüchtlinge können oft nicht normal weiterleben, solange ihre Familien nicht in Sicherheit sind.

Zur Person

Melissa

Fleming

ist Sprecherin des UN-Flüchtlingshochkommissariats UNHCR. Die New Yorkerin studierte Deutsch und Journalismus in den USA und arbeitete für die OSZE in Wien, bis sie 2008 zum UNHCR wechselte. In Wien war sie auf Einladung des Kreisky Forums. UNHCR/Wendy Tiba