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Zwischen Nostalgie und Nationalismus

Von Ingrid Thurner

Reflexionen

Zwei Jahrzehnte nach den Kriegen ist nichts so, wie es war, und nichts ist gewonnen. Ein kritischer Rundblick.


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Die Lebensqualität der Mittelschichten nimmt ab, die Vermögen Einzelner nehmen zu, und der völkische Nationalismus gedeiht. Populismus ersetzt Volkssouveränität, bürgerliche Freiheiten gibt es nur auf dem Papier. Ein gutes Leben ist für viele in der Nähe nicht zu haben, daher suchen sie es in der Ferne.

Serbien ist so nahe und doch so weit. Es gibt Städte und Länder, die die Fantasie entfesseln, Serbien gehört nicht dazu. In mitteleuropäischen Köpfen weckt der Klang des Wortes wenige Assoziationen - und schon gar keine freudigen. Er ruft kein Fernweh und keine Sehnsucht hervor, zumindest nicht bei Menschen ohne Migrationsbiografie. Da denkt man an Krieg und Kampfhandlungen, an Schuld und Verstrickung, an Nato-Bomben, an Massaker und Genozid, an Vertriebene und Geflüchtete.

Zerrissene Region

Vielleicht fällt dem einen oder der anderen literarisch Interessierten noch ein Herr Handke ein, der sich politisch etwas exponiert hat. Manchen mögen sich die Namen einiger in Den Haag verurteilter Verbrecher eingeprägt haben. Doch an all das möchte man nicht oft erinnert werden, deswegen wird es lieber beiseitegeschoben.

Serbien ist also weit, und doch ist es so nahe. Von Wien aus erreicht man in fünf bequemen Autostunden nahe dem südungarischen Szeged die serbische Nordgrenze. Dort beginnt das, was einmal Jugoslawien war. Heute liegen auf derselben Fläche anstatt einem Staat deren sechs oder eher sieben, Bosnien und Herzegowina, Kroatien, Montenegro, Nordmazedonien, Serbien, Slowenien, der völkerrechtliche Status von Kosovo ist problematisch.

Direktoren, Diktatoren und andere Führungskräfte verabsäumen es gewöhnlich, einen Nachfolger aufzubauen. Das wurde auch Tito vorgeworfen. So brachen bald nach dem Tod des Marschalls 1980 in dem multikulturellen Staatsgebilde Risse auf. Die Unterschiede in ethnischer, sprachlicher und religiöser Hinsicht - jahrzehntelang beherrschbar und durch gemeinsame Interessen in den Hintergrund gedrängt - fielen immer mehr ins Gewicht. In den sechs Teilrepubliken (Serbien, Kroatien, Slowenien, Bosnien-Herzegowina, Montenegro, Mazedonien) und zwei autonomen Regionen (Vojvodina, Kosovo) begann es zu brodeln.

Zudem drängten allerorts divergierende Kräfte aus verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen in verschiedene Richtungen, Intellektuelle und bürgerliche Milieus strebten nach Demokratie und Meinungsfreiheit, in Kroatien und Slowenien wurden nationalistische Ideologien gepflegt, in Bosnien religiöse, im Kosovo wurde mit Albanien sympathisiert, Enver Hoxha entsandte seinen Geheimdienst zum Zündeln, vielerorts waren Separatisten am Werk. Überall gewannen antijugoslawische Positionen in öffentlichen Debatten Gewicht, es wurde zur Gewohnheit, Probleme aller Art zu ethnisieren, nationalistische Propaganda vergiftete das Klima.

In Krisenzeiten, wenn weltliche Heilsversprechen versagen und Fortschrittsoptimismus sich als Chimäre erweist, wenden Menschen sich gerne wieder weniger säkularen Sinnstiftungsmodellen zu, das Religiöse gewinnt an Dimension. Die Entwicklung des herzegowinischen Dorfes Medjugorje aufgrund angeblicher Marien-Erscheinungen zum Pilgerort mit Millionen von Besuchern jährlich ist dafür ein Beispiel.

Zentrifugale Kräfte

Die Theologen erkannten die Gunst der Stunde. Es erwies sich, dass die Wiederbelebung religiöser Traditionen und politisch-nationalistische Agitation vorzüglich zueinander passen und dazu geeignet sind, Massen zu mobilisieren. Eine religiöse Verbrämung eines Besitzanspruches ist allemal effektvoller als eine moralische Forderung oder ethnopolitische Argumentation. So leisteten auch die klerikalen Institutionen, die katholischen ebenso wie die serbisch-orthodoxen und die muslimischen, ihren Beitrag zur Spaltung Jugoslawiens.

Der Regierung in Belgrad gelang es nicht mehr, Tito nach seinem Tod als integrative Führungspersönlichkeit zu mythologisieren, die politischen Interessen in den Regionen standen dem zentralistischen System ohnedies längst entgegen, sie wollten sich selbst entfalten - je schwächer die Hauptstadt wurde, umso stärker wurden die regionalen Kräfte - und sie strebten auseinander. Was sich zwischen den Republiken im Großen und im Ganzen ereignete, setzte sich im Kleinen und im Einzelnen fort auf der Ebene individueller Begegnungen: Aus Schulfreunden, Arbeitskolleginnen, Spielgefährten, Tennispartnerinnen wurden Feinde. Titos Kohäsionspolitik war grandios gescheitert.

"Niemand kennt Serbien", schrieb Peter Handke. Und hat er damit nicht recht? Sein einfühlsamer Bericht "Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina oder Gerechtigkeit für Serbien" (1996) ist weder rassistisch noch nationalistisch noch verherrlicht oder verharmlost er Verbrechen.

Handke allerdings hat sich selbst ein Verbrechen aufgeladen. Dieses war nicht, dass er mit mehreren Schriften Serbien Gerechtigkeit verschaffen wollte, sondern, dass er die Serben-zermalmende Berichterstattung angegriffen hat, und zwar die edelsten Blätter Deutschlands und Frankreichs, "die Rotten der Fernfuchtler, welche ihren Schreiberberuf mit dem eines Richters (...) verwechseln", die "von ihrem Auslandshochsitz aus auf ihre Weise genauso arge Kriegshunde sind wie jene im Kampfgebiet".

Pauschale Schuld

Der mediale Mainstream erklärte bei der Zerstückelung Jugoslawiens stereotyp und pauschal Serben zu Tätern und alle anderen Beteiligten zu Opfern. So war es aber nicht. Es war zum einen so, wie es in Kriegen immer ist, Täter gab es auf jeder Seite und Opfer waren ohnedies alle, mit Ausnahme der üblichen raffgierigen Kriegsgewinnler. Zum anderen war es so wie in jedem Land, in jedem Dorf und auch in den Familien: Nie sind alle mit der Politik ihrer Obrigkeit einverstanden, nie sind alle Hetzer und Mörder, nie sind alle als Gesamtheit zu verdammen. Immer sind es Individuen, die die Kriege veranstalten und Verbrechen verüben.

So war es auch in Jugoslawien. Darauf hat Handke hingewiesen. Das war sein Verbrechen. Bei seinen Auftritten mag er zeitweise übers Ziel hinausgeschossen haben - wer gegen die vorgefertigte Meinung der halben Welt anredet und anschreibt, sieht sich gezwungen, zu drastischen Mitteln zu greifen.

Und auch die Serben in den anderen Republiken nahmen und nehmen keineswegs geschlossen die Position für die Machenschaften der Regierung in Belgrad ein, ebenso wenig wie jene in der Diaspora. Überall gab es Zorn und Wut über die Ohnmacht, ein Leiden am Abgeschnittensein vom Rest der Welt, eine große materielle Not. Bis heute herrschen vielerorts ein Bedauern und ein Leiden daran, dass Jugoslawien nicht mehr besteht.

Nun, mit zwanzigjährigem Abstand zu zehnjährigen Kampfhandlungen, Staatszerfall, hunderttausenden von Toten und Millionen von Vertriebenen, geht es den Bevölkerungen in keinem der Nachfolgestaaten besser als davor. Nichts ist mehr so, wie es war, und nichts ist gewonnen. Die Kriege schwappten verbrecherische Netzwerke nach oben, im Global Organized Crime Index 2021 steht Serbien an 33. Stelle und führt damit Europa an. Montenegro und Bosnien und Herzegowina liegen ebenfalls weit oben.

Einzelne Persönlichkeiten sind zu enormem Wohlstand gelangt, sie kauften in den eleganten Vierteln ganze Häuserzeilen, errichteten Geschäfte, Restaurants und Bars und prägen das öffentliche Leben. Letztlich sind es heute in den Hauptstädten einige wenige, die den Ton angeben und bestimmen, wo es langgeht, politisch und ökonomisch. So mancher diente schon dem alten Regime, das die Kriegsgräuel veranstaltete. Das serbische Staatsoberhaupt Aleksandar Vučić war Informationsminister zur Zeit von Slobodan Miloševićs Präsidentschaft - und dies während der vernichtenden Kämpfe um den Kosovo.

Straßen und Parks der serbischen Städte sind gepflegt, die Schicki-Lokale sind voll, aber Arbeitsplätze sind Mangelware und schlecht bezahlt. Man kann sich nichts ersparen, es sei denn, man ist serbisch und linientreu, dann warten auch gute Gelegenheiten. Benzin ist teuer, ebenso Importwaren wie Elektronik, deren Schmuggel über die EU-Grenze funktioniert. Die Regierung kürzt Sozialausgaben zugunsten von militärischen, Präsident Vučić, autokratisch, selbstherrlich und medial dauerpräsent, buhlt mit bombastischen Paraden und nationalistischen Parolen um die Wählergunst.

Mit Integrationszwängen und Solidaritätszumutungen wird die Bevölkerung nicht belastet, umso mehr aber mit einem Erinnerungsaktivismus genervt. Zwei Jahrzehnte nach den Kämpfen sind diese noch immer allgegenwärtig, und das ist politisch gewollt. Im Rahmen der Vergangenheitspolitik wird das Gedenken an Kriegsverbrechen jährlich umfangreicher gestaltet. Mit viel geschichtsrevisionistischem Geschwurbel konstruiert man Helden und Opfer und Nationalstolz, mit viel Zeremoniell wird über Identität, Souveränität und Eintracht geschwafelt.

Nebenher verspritzen Politiker Gift gegen die ehemaligen Bruderrepubliken. Sie reden von damals, zielen aber auf heute. Wenn man solche Symbolfloskeln hört, fragt man sich unweigerlich und ängstlich, ob der Kitt der Versöhnung langfristig stabil genug sein wird. Die politische Rhetorik schwört die Bevölkerung auf eine dauerhafte Vorkriegsatmosphäre ein, wobei nicht von Groß-Serbien die Rede ist, sondern von der "serbischen Welt". Die Beziehungen zwischen den Republiken scheinen ebenso zerrüttet wie die zwischen Nachbarn. Man ist um Höflichkeit bemüht.

Scharfe Grenzlinien

Nationalismus und Ethnopolitik sind nicht jedermanns Sache, so florieren auch Tito- und Jugo-Nostalgie. Mögen die Leute die gesellschaftspolitische Situation vor der Zerschlagung des südslawischen Staates heute auch idealisieren - aber sie teilten Erfahrungswelten und lebten in gutem Einvernehmen mit ihren andersethnischen und andersreligiösen Nachbarn, man besuchte einander, sorgte sich umeinander und lebte miteinander. Heute wohnt man bloß noch nebeneinander und agiert im Zweifelsfall gegeneinander; Lebensrealitäten, Chancen und Perspektiven sind ungleich verteilt entlang ethnisch-religiös-sprachlicher Grenzlinien, und Gemeinsinn wird ebenso entlang dieser entwickelt und gepflegt.

Allerdings sind die gesellschaftlichen Verwicklungen und Verwerfungen noch viel diffiziler und komplexer, als es auf den ersten Blick scheinen mag. Durch jahrhundertelanges Teilen von Lebensräumen und Ressourcen, durch Eheschließungen, Beziehungen und Geburten entstanden multiethnische und multireligiöse Familien, Individuen bekennen sich zu Doppel- und Mehrfachidentitäten, was ihre Position in den Sezessionskriegen besonders schwierig machte, sie wissen nicht, wo sie dazugehören sollen und wollen. Derartige Ungewissheiten führen in die Isolation, wie Aleksandar Tišma in seiner 2021 auf Deutsch erschienenen Autobiografie "Erinnere Dich ewig" eindrücklich beschreibt.

Tišma, Schriftsteller mit ungarisch-jüdischer Mutter und serbisch-orthodoxem Vater (das nennt er "gemischte Herkunft"), stammte aus Novi Sad, dem Neusatz des Habsburgerreiches, Hauptstadt der Vojvodina und europäische Kulturhauptstadt 2021/22. Dort verbrachte er seine Schulzeit vor dem Zweiten Weltkrieg, und er beschreibt eine multiethnische, multikonfessionelle Gesellschaft mit unterschiedlichen Sprachen, widersprüchlichen Gewohnheiten, Manieren, Esssitten und Höflichkeitsformen, was den jugendlichen Tišma zum Beobachten und Vergleichen anspornte. Indes vermisste er bei sich selbst jene Sicherheit, die die Zugehörigkeit zur serbisch-orthodoxen Mehrheit schon damals verlieh. Die Minderheiten fremdelten.

Seit 2012 ist Serbien EU-Beitrittskandidat, während die Verhandlungen gerade nicht vorankommen, denn unter der rechtskonservativen Ideologie - nationalistisch, migrationsfeindlich, marktfreundlich - marschiert die Regierung in Sachen Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte und Pressefreiheit nicht in die Richtung, die von der EU vorgegeben wird, und Präsident Vučić gelingt es ganz gut, sein Land als Opfer darzustellen.

Unterstützt wird er von Viktor Orban, der seinerseits bemüht ist, die nationalistischen, migrationsfeindlichen Positionen innerhalb der EU zu vervielfältigen und zu stärken. Zwischendurch flirtet Vučić mit den Kollegen Xi Jinping und Recep Tayyip Erdogan und besonders heftig mit Wladimir Putin - damit kann er die Eifersucht der kapriziösen EU erregen, deren Erweiterungsgelüste reizen und gleichzeitig die Weltmächte gegeneinander ausspielen. Vučić ist auch ein Meister der Konfliktbewirtschaftung, schaukelt eine kleine Sache mit Hilfe gefügiger Medien hoch und inszeniert sich dann mit viel Trara, Getöse und Selbstlob als Problemlöser.

Als Retter des Volks gab er sich auch unlängst. Zwei Wochenenden in Folge hat friedlicher zivilgesellschaftlicher Aktivismus Straßen, Brücken und Autobahnen blockiert und Städte lahmgelegt, um den Protest gegen ein Bergbauprojekt und zwei neue Gesetze (zu Enteignungen und zu Volksabstimmungen) deutlich zu machen. Die Regierung schickte zuerst Schlägertrupps und hat dann eingelenkt. Doch die Proteste setzten sich am Samstag der vergangenen Woche fort.

Serbien hat Persönlichkeiten hervorgebracht, die die Welt veränderten, etwa den Erfinder und Pionier der Elektrotechnik Nikola Tesla und den Attentäter Gavrilo Princip. Ersterem verdankt die Welt Stromnetze und Elektrogeräte. Zweiterer feuerte die Schüsse in Sarajewo ab, lieferte somit den Vorwand für den Ausbruch des Ersten Weltkrieges ("Serbien muss sterbien") und versetzte damit schlussendlich auch dem Habsburgerreich samt Monarchie den Todesstoß.

Auf immer festgelegt

Auch Ministerpräsident Zoran Đinđić war einer, der glaubte, man könne eine bessere Welt errichten. Das passte einigen gar nicht, und 2003 fiel er Anhängern des alten Regimes zum Opfer. Er hatte versucht, die kommunistischen und nationalistischen Kräfte zu versöhnen und die Kriegsverbrecher zur Rechenschaft zu ziehen. Mit diesem Toten wurden die Hoffnungen der jungen Nation begraben. Bis heute sehen viele, vor allem Junge, keine andere Chance als die Flucht ins Ausland, der Braindrain, den das Land erleidet, ist ungeheuerlich.

Aber auch in der Diaspora werden die Leute ihre Geschichte nicht los. Sie stehen im Generalverdacht, Massenmörder und Muslimhasser zu sein, die Umgebung reduziert sie auf ihr Serbentum, durch Name, Sprache, Akzent und Religionszugehörigkeit sind sie punziert, ein Leben lang. Da nützt es auch nichts, wenn sie ihren Kindern andere Vornamen geben, die Religion verleugnen, die Sprache vergessen. Die Umgebung vergisst nicht. Auch Schriftsteller behandeln dieses Thema in mehreren Romanen, etwa Dragan Velikić oder Marko Dinić.

Das gescheiterte Jugoslawien wirkt fort und prägt bis heute die politische Bühne ebenso wie individuelle Biografien.

Ingrid Thurner ist Ethnologin mit den Forschungsschwerpunkten Mobilität und Fremdwahrnehmung sowie Publizistin im Bereich Wissenschaftskommunikation.