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Zwischen Ritual und Resignation

Von Günter Spreitzhofer

Reflexionen

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Togo ist seit fünfzig Jahren unabhängig. Von Gnassingbé Eyadéma über vierzig Jahre autokratisch regiert, ist seit dessen Tod Sohn Faure Gnassingbé an der Macht, der 2005 unter Missachtung der Verfassung von der Armee zum neuen Präsidenten ernannt und Anfang 2010 wiedergewählt wurde. Beide Male wurde massiver Wahlbetrug vermutet. Zigtausende Oppositionelle, meist aus dem Süden, flüchteten in die Nachbarstaaten Ghana und Benin. Deshalb herrscht heute tiefes Misstrauen zwischen den Bevölkerungsgruppen in diesem Land, das einmal zu den Hoffnungsträgern postkolonialer Emanzipation zählte: Vom legendären Swinging Lomé der 1980er Jahre ist jedoch wenig geblieben - die Hauptstadt Lomé, einst ein Zentrum für Lebensfreude und optimistische Aufbruchsstimmung, ist jetzt von hässlichen Betonklötzen verbaut, dazwischen verkümmern ungepflegte Parkanlagen.

Königspalast aus Ziegeln

Es gibt in der Stadt kein buntes, fröhliches Nachtleben mehr, die menschenleeren Stadtstrände sind auch tagsüber nur unter Lebensgefahr zu betreten. Auf den Straßen rund um den Präsidentenpalast patrouillieren Panzerwagen, mit deren Besatzung nicht zu spaßen ist. Schon ein Blick zu viel kostet zumindest Zeit und oft auch Geld, um die Befragung zu beschleunigen und den omnipräsenten Spionageverdacht aus der Welt zu reden. Denn alle Regierungsgegner werden vom Ausland unterstützt - so lautet das staatliche Credo seit 2005.

Damals ging auch das Goethe-Institut in Flammen auf, nachdem Togos Regierung Deutschland vorgeworfen hatte, auf Seiten der Opposition zu stehen, und Außenminister Joschka Fischer ein sofortiges Ende der "antideutschen Hetze" gefordert hatte.

Die deutsche Präsenz war freilich nur ein kurzes Intermezzo in der Geschichte der westafrikanischen Republik Togo: Seit 1857 gründeten hanseatische Handelsunternehmen Stützpunkte an der sogenannten Sklavenküste, die bald durch regelmäßige Schiffsverbindungen mit dem Deutschen Kaiserreich verbunden waren. 1884 besiegelte der Schutzvertrag zwischen König Mlapa III. und Gustav Nachtigall den neuen Status der Region, die als Musterkolonie "Togoland" oder "Deutsch-Togo" in die Kolonialgeschichte einging, bis der Erste Weltkrieg die Besitzverhältnisse änderte und Briten und Franzosen das Kommando übernahmen, Letztere bis 1960.

Die Spurensuche gestaltet sich schwierig: Nach Togoville, dem Ort der Vertragsunterzeichnung, gelangt man in einer wurmstichigen Piroge, die mit Stangen über den seichten Togosee - eine Inlandlagune - gestakt wird. Der Königspalast erweist sich als ein einstöckiger Ziegelbau mit abbröckelndem Putz, der Thron als ein überdimensionaler gepolsterter Lehnstuhl. Im Hof findet sich eine alte deutsche Kanone, daneben lebensgroße Skulpturen der Vertragsunterzeichner und etliche Hühner, die wohl demnächst auf einem Voodoo-Altar geopfert werden.

Der Urenkel des Königs trägt zerschlissene Jeans und ein blütenweißes Teamtrikot von Jürgen Klinsmann, in den frühen 1990ern Fußballstar und später Trainer der deutschen Fußballnationalmannschaft. Erwartet wird eine - spesenpflichtige - Eintragung in das königliche Gästebuch. (Wir sind der erste ausländische Besuch seit vier Monaten.) Seit Papst Johannes Paul II. hier zu Besuch war, für den ein eigener Landesteg und ein Freiluftaltar am Seeufer errichtet wurden, hält sich das internationale Interesse in Grenzen, sagt der Urenkel.

Außer dem Restaurant Alt-München oder der Rue Duisburg erinnert in der Hauptstadt wenig an die Zeit, als die gesamte Elefantenpopulation des Landes wegen des Exportgutes Elfenbein nahezu ausgerottet wurde.

39 Sprachen in Togo!

Schauplatzwechsel. Per Buschtaxi ist Kpalimé, ein Höhenkurort 120 km nördlich von Lomé, recht gut erreichbar, sofern nicht gerade Regenzeit ist: Drei Stunden melodische Gospelmusik und acht Personen für fünf Sitze in einem ältlichen Peugeot, denn die koloniale Bahnverbindung existiert nicht mehr. Dann erscheint eine mächtige Kirche in ländlichem Idyll, zwischen Palmen, Cassava-Feldern und Erdnusshändlerinnen. Der deutsche Friedhof ist verwuchert und zugewachsen und nur zu finden, wenn die Kinder, die mit ihren Ziegen in den Ruinen der alten Kasernen wohnen, die Führung übernehmen. Strom gibt es hier nicht, abends ist er auch in Kpalimé selten. Nur das große Internet-Café neben der Kirche, eine Mischung aus Schulklassenzimmer, Online-Spielsalon und Businessman-Büro, produziert mit einem eigenen Generator lautstark Strom.

Togo ist 550 km lang, aber oft nicht mehr als 50 km breit: Nur wenige Staaten Afrikas haben eine geringere Landesfläche, die sich aber Dutzende ethnischer Gruppen (mit insgesamt 39 Sprachen) teilen. Die Ewe machen etwa 40 Prozent der 6,5 Millionen Einwohner aus: Fast die Hälfte von ihnen ist jünger als 15 Jahre und lebt vorwiegend an der Küste. Offiziell praktiziert knapp die Hälfte der Bevölkerung Naturreligionen, oft vermischt mit christlichen und muslimischen Elementen. Folglich haben die Fetisch-Märkte noch nicht ausgedient, jene Orte, wo Voodoo-Priester Affenschädel, Leopardenschwänze und Kobrahäute als Allheilmittel anpreisen.

Nicht-afrikanischen Besuchern werden hohe Eintrittspreise abverlangt, um den Fetisch-Markt von Lomé betreten zu dürfen: eine Ansammlung von Holzbuden, davor Stöße von Tierkadavern in unterschiedlichem Verwesungsgrad. Heimische Käufer sind nicht zu sehen. Dabei handelt es sich um die größte Apotheke der Stadt, wie Michael Abo betont, gegen Impotenz, Malaria, Traurigkeit und Verschwendungssucht. Michael ist einer der Guides, ohne die Ausländer das Gelände nicht betreten dürfen. Österreichische Kunden habe er nicht selten, sagt Michael, die würden seine Fetische containerweise nach Europa schaffen. Ein Mysterium mehr.

"Voodoo ist älter als die Welt. Wir sind damit geboren, es ist überall", behaupten die Anhänger der Vielgötterreligion, deren zentrales Element Tieropfer sind - die Zeit der Menschenopfer ist längst vorbei. Die Voodoo-Anhänger tanzen auch heute noch für die Erdgottheit Sakpata - als Dank für Regen, als Bitte um Gnade vor der Ansteckung mit Pocken. Dazu kommt die Verehrung der Geister von Verstorbenen.

Der Voodoo-Kult erschwert in einigen afrikanischen Staaten die medizinische Versorgung der Bevölkerung. Zu diesem Ergebnis sind Ärzte aus Deutschland und der Schweiz gekommen, die im Juni 2010 im Auftrag der christlichen Hilfsorganisation "humedica" und der "Aktion Patenkinder in Togo - PiT Togohilfe" mehr als 2200 Patienten in Krankenhäusern, Gefängnissen und ländlichen Gesundheitsstationen sowie einem Zentrum für Straßenkinder behandelt haben. Ihren Beobachtungen zufolge werden Kranke meist von Voodoo-Zauberern behandelt, die schulmedizinisch fragwürdige und manchmal Leben gefährdende Methoden anwenden. Viele Krankheiten werden als Strafe für die Vergehen von Vorfahren angesehen. Deshalb präge Angst vor Strafe und Verfolgung den Alltag.

Der Anthropologe Wade Davis gilt als Experte für Voodoo, war er doch federführend beim Ethnosphären-Projekt der "National Geographic Society" beteiligt. Voodoo sei im Grunde nichts anderes als das Höllenkonzept der westlichen Traditionen - bevor das Böse nicht für alle sichtbar gemacht worden ist, kann es nicht überwältigt werden. Christliche Missionare sehen die westafrikanischen Kulte allerdings weniger entspannt: Viele der ursprünglich zum Christentum Konvertierten sind zu ihren traditionellen Riten zurückgekehrt, verehren wieder Fetische und tanzen heimlich mit den Geistern: Die westafrikanische Aufbruchsstimmung des frühen Postkolonialismus hat längst allgemeiner Resignation Platz gemacht: Präkoloniale Traditionen scheinen Erfolg versprechender als der Glaube an eine faire Gegenwart in einer sich globalisierenden Welt, die einen Bogen um Westafrika zu machen scheint.

Postkolonialer Regionalismus boomt, und das Leben für die paar Weißen, die hier geblieben sind, hat seine frühere Leichtigkeit verloren. Viele treffen sich abends in der Bar des kleinen Hotels Le Galion, nahe der deutschen Botschaft, denn die Freizeitgestaltung der Expats ist nicht einfacher geworden, seit willkürlich gegen Regimegegner vorgegangen wird.

Das beliebte Wassersportzentrum Auberge du Lac am Togosee ist zerstört, nur mehr wenige Bungalows sind bewohnbar, die Surfboards und Kajaks zertrümmert. "Was morgen sein wird, weiß niemand", sagt eine Schweizer NGO-Mitarbeiterin, bevor sie sich auf ein Moped-Taxi schwingt und langsam im dichten Abendverkehr entschwindet. Weiterkommen ist hierorts immer schwierig: Lomé hat 20 Stunden Stoßzeit und jeder Mopedbesitzer ist zugleich auch Taxifahrer.

300.000 Kindersklaven

Das Monument am zentralen Place De l’Indépendance ist verfallen, das Nationalmuseum dahinter nicht selten geschlossen, weil die Aufseher für die beiden Räume mit der obligatorischen Sammlung von Tonkrügen, lokaler Schnitzkultur und vergilbten Porträts kolonialer Gouverneure lieber zu Hause bleiben. Aktuelles aus Politik, Kultur und Wirtschaft wird man hier vergeblich suchen, alternative sozioökonomische Visionen nach dem Ende des Rohstoffbooms ebenso. Baumwolle, Kaffee, Kakao und Phosphat werden exportiert - und Kinder. Schätzungen zufolge arbeiten über 300.000 Fünf- bis Fünfzehnjährige als Kindersklaven im umliegenden Ausland. Die Auslandsüberweisungen der Migranten aus aller Welt sind in Folge der aktuellen Wirtschaftskrise stark zurückgegangen.

Travail, Liberté, Patrie! Arbeit, Freiheit, Vaterland! Vor dem staubigen Kongresspalast rangeln nicht selten wütende Politiker in dunklen Anzügen miteinander, die Händler davor bieten preiswerte Krawatten und weiße Hemden an. Die Lackschuhputzer haben Hochbetrieb.

Daneben, am Parkplatz vor dem Tagungshotel "2. April", weiden ein paar Pferde, ein schwarzer Mercedes 280 D wird neben dem Hotelmüllplatz gewaschen. An seinem Kofferraum klebt noch ein "D". Und an der Antenne baumelt ein kleiner haariger Fetisch, denn sicher ist sicher.

Günter Spreitzhofer, geboren 1966, ist Lektor am Institut für Geographie und Regionalforschung (Universität Wien).