Zum Hauptinhalt springen

Zwischen Selbstverantwortung und dem Ruf nach mehr Kontrolle

Von Christian Rösner

Analysen

Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 13 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Ein heute 80-jähriger Mann soll im Bezirk Braunau seit 1970 seine beiden Töchter - mittlerweile 53 und 45 Jahre alt - regelmäßig sexuell missbraucht und körperlich misshandelt haben.

Und nicht zum ersten Mal stellen sich viele Menschen die Frage: Warum hat das niemand bemerkt? Waren die Töchter nie einkaufen, bei der Post, beim Frisör oder in einem Gasthaus? Haben sie nie mit Nachbarn, Bekannten, Verwandten geredet? Und wenn sie tatsächlich völlig von der Umwelt abgeschottet waren - wie konnte sich der Verdächtige nach außen hin rechtfertigen?

Auch beim Inzest-Fall von Amstetten wurden diese Fragen erhoben - ebenso bei Natascha Kampusch, die mit ihrem Entführer sogar gemeinsam auf Skiurlaub gewesen sein soll. Schnell wurden Vorwürfe laut, dass die Polizei schlecht ermittelt hätte. Bei anderen Missbrauchsfällen wurden wiederum die Jugendämter kritisiert und es folgte der Ruf nach mehr Kontrolle.

Aber die Frage ist doch, wo die moralische Verantwortung eines Mitbürgers beginnt. Experten meinen, das ist erst der Fall, wenn man etwas weiß. Doch wenn jeder Mensch dazu angehalten wäre, misstrauisch durch die Gegend zu laufen, um jeder unkonventionellen Art des Zusammenlebens anderer Menschen schweren Missbrauch anzulasten, dann würde das öffentliche Denunzieren wieder salonfähig gemacht werden.

Dass die Dunkelziffer der Missbrauchsfälle weitaus höher ist als die Zahl der bekannten, weiß man. Ebenso weiß man, dass in diesem Bereich Handlungsbedarf besteht. Die Frage ist nur, wie man damit umgeht. Denn prinzipiell haben Menschen das Recht, sich nach ihrem eigenen Ermessen aus der Gesellschaft zurückzuziehen. Wie weitreichend das eigene soziale Netzwerk reicht, entscheidet man selbst. Nur ein Überwachungsstaat könnte diese Freiheit einschränken.

So ist es auch der Datenschutz, der es Spitälern verbietet, Auffälligkeiten bei Patienten an andere Spitäler außerhalb des Rechtsträgers weiterzuleiten. Diesen Schutz für einen anderen Schutz aufzuweichen wäre jedoch ein Schritt in Richtung "Big Brother".

Aber es gibt bei Missbrauchsverdacht immerhin eine Anzeigepflicht - Voraussetzung dafür ist freilich die Einschätzung des Arztes. Und Einschätzungen können bekanntlicherweise unterschiedlich ausfallen. Hier sind wir wieder bei der moralischen Verantwortung, die das Wissen voraussetzt, und wie man mit diesem Wissen umgeht. Dieser Verantwortung muss sich jeder Mensch stellen - auch die Polizei bei ihren Ermittlungen und die Sozialarbeiter, die Hinweise ernst nehmen können - oder eben nicht. Und der Rest wird weiter nach mehr Kontrolle schreien.

"Freiheit bedeutet Verantwortlichkeit; das ist der Grund, warum die meisten Menschen sich vor ihr fürchten." (G.B. Shaw).