Ein Hochseilakt in einem aufgeheizten Klima.
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Ja, es war ein großes, ein eindrucksvolles Zeichen - der "Republikanische Marsch von Paris", die Manifestation der Millionen auf den Straßen. Und es war eine nachdrückliche Reaktion auf die beiden Attentate, jenes gegen "Charlie Hebdo" und jenes gegen den jüdischen Supermarkt. Aber auch das mächtigste Zeichen kann die Herausforderung nicht verhehlen, vor die die Attacken die westlichen Gesellschaften stellen. Diese Gesellschaften müssen nicht nur ihre Weltoffenheit bekräftigen. Sie müssen sich auch und zugleich gegen zukünftige Attentate wehren - eine mehr als heikle Gratwanderung.
Dazu muss ein Sicherheitsdispositiv in Anschlag gebracht werden: Kontrollen, Überwachungen - sinnvolle und sinnlose. Geheimdienste, Polizei - was bislang als unterdrückende Staatsmacht wahrgenommen wurde, danach wird jetzt gerufen. Wieso arbeiten die Geheimdienste nicht besser? Wieso konnten sie die Attentate nicht verhindern?
Wie aber sollen diese Gesellschaften die notwendige Wehrhaftigkeit aufbringen, um ihre Bürger zu schützen, ohne dabei ihre demokratische Freiheit einzuschränken? Denn der größtmögliche Schutz vor der islamistischen Bedrohung in ihrer Unvorhersehbarkeit und potenziellen Ubiquität (Attentate kann es immer und überall geben) - dieser Schutz riskiert die Offenheit der Gesellschaft, für die nun die Menschen in Paris, Berlin und Wien auf die Straße gegangen sind.
Wie heikel und wie widersprüchlich diese doppelte Herausforderung ist, zeigt sich exemplarisch an der Diskussion um radikalisierte Jugendliche: Wie soll man mit ihnen umgehen? Was macht man mit minderjährigen Mädchen, die nach Syrien wollen? Harte Maßnahmen oder weiche? Einsperren oder integrieren? Sicherheitsdispositiv oder Pädagogik? Was macht man mit denen, die aus dem "Dschihad" zurückkehren - Aberkennung der Staatsbürgerschaft oder Re-Sozialsierung?
Diese Maßnahmen schließen sich nicht nur aus. Sicherheitspolitische Maßnahmen konterkarieren ideologische und pädagogische Maßnahmen. Es sagt sich so leicht: Jetzt braucht es beides. Es braucht Wehrhaftigkeit und Weltoffenheit. Wie aber soll das gelingen, wenn dies entgegen gesetzte Strategien sind? Wenn sie einander ausschließen? Faktisch und mental. Wie kann man verhindern, dass Angst und Wehrhaftigkeit nicht jene Offenheit untergraben, für die diese Gesellschaften angegriffen wurden?
Das demokratische Hochamt auf den Straßen löst nicht den Widerspruch: Wie kann man gegen den Islamismus mobilisieren und sich gleichzeitig zum Pluralismus bekennen? Der Widerspruch liegt nicht im Feind, dem Islamismus. Er liegt im Gegensatz von Mobilisierung und Offenheit. Er liegt in der Gefahr ihrer Kontamination.
Zentral ist dabei die Debatte, ob der Islamismus Teil des Islams sei oder dessen Pervertierung. Ob die Gewalt im Namen des Islams diesen Namen missbraucht oder nicht. Wir führen diese theologische Debatte nicht als Theologen. Und ihr Einsatz ist alles andere als religiös. Wir führen dies als eine politische Debatte. Und die jeweiligen Antworten sind die politischen Codes für die Haltung zur Pluralität. Pluralismus ist nicht nur ein faktischer Zustand, sondern auch eine herzustellende Geisteshaltung. Kann dieser Hochseilakt zwischen Schutz und Offenheit in diesem aufgeheizten Klima gelingen?