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Zwischen Widerstandswille und Sorge

Von WZ-Korrespondent Denis Trubetskoy

Politik
Der Christbaum in Kiew ist heuer deutlich kleiner als in den vergangenen Jahren. Für viele in der Hauptstadt ist er dennoch einer der schönsten.
© reuters / Valentyn Ogirenko

Luftangriffe überschatten die Zeit zwischen dem katholischen Weihnachtsfest und dem orthodoxen am 7. Jänner.


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So menschenleer und leise war der Kiewer Sophienplatz, einer der wichtigsten und schönsten Plätze der ukrainischen Hauptstadt, noch nie zu Neujahr, dem hierzulande wichtigeren Winterfeiertag als Weihnachten. Normalerweise findet hier, in der Umgebung der mächtigen Sophienkathedrale, die größte Neujahrsparty des Landes statt. Hunderttausende treffen sich, um vor dem Weihnachtsbaum ein riesiges Konzert zu genießen und dabei Glühwein zu trinken.

An diesem 31. Dezember waren es aber nicht viel mehr als hundert Menschen, die sich gegen 21 Uhr am Sophienplatz aufhielten. Hier länger zu bleiben ging sowieso kaum: Zwar hat es in der Stadtverwaltung Diskussionen darüber gegeben, doch die um 23 Uhr beginnende Ausgangssperre wurde letztlich auch für die Neujahrsnacht nicht abgeschafft. Die Polizisten zeigten sich bei Übertretungen aber weniger streng als sonst, wenn diejenigen, die nach 23 Uhr noch auf den Straßen unterwegs waren, zumindest ihre Dokumente dabei hatten.

Fast täglich Luftalarm

"Selbst im Stadtzentrum gibt es fast keine Straßenbeleuchtung und es gibt kaum Menschen auf der Straße. Wir wollten aber trotzdem feiern, etwas anderes bleibt uns nicht übrig", erzählte ein junges Paar mit angezündeten Wunderkerzen einem englischsprachigen Kamerateam vor dem Weihnachtsbaum, den man trotz Debatte im Vorfeld aufgestellt hat. Verziert mit weißen Tauben und dem ukrainischen Staatswappen an der Spitze, hat es der Kiewer Weihnachtsbaum der BBC zufolge sogar in die Top 5 der schönsten Weihnachtsbäume der Welt geschafft.

Auf einen Kiewer machte dieser allerdings keinen allzu großen Eindruck. Denn der diesjährige Weihnachtsbaum ist deutlich kleiner als normalerweise. "Wenn er abends in ukrainischen Farben leuchtet, ist er aber einer der schönsten, den wir hier je hatten", sagt eine Passantin mittleren Alters. Der von einem Generator versorgte Weihnachtsbaum wird jeden Tag zwischen 17 und 22 Uhr beleuchtet - außer es herrscht Luftalarm.

Und Luftalarm gab es in den Neujahrstagen genug. Nachdem Russland bereits am 29. Dezember fast 70 Raketen Richtung Ukraine fliegen ließ, wurden Kiew und andere Städten am 31. Dezember wieder beschossen. In der Hauptstadt waren einige der lautesten Explosionen seit Beginn des Krieges zu hören. In der Innenstadt wurde ein Hotel massiv beschädigt, es gab zwei Tote und mehr als 20 Verletzte.

Kurz nach Beginn des neuen Jahres und der Ansprache von Präsident Wolodymyr Selenskyj setzte sich der Beschuss dann fort. Während viele europäische Hauptstädte Böller hörten, war es in Kiew der unermüdliche Kampf der Flugabwehr gegen Raketen und Kampfdrohnen. In der Nacht zum 2. Jänner erfolgte schließlich ein massiver Angriff mit rund 40 Drohnen, bei dem trotz hoher Abschussquote zumindest ein Objekt der Kiewer Energieinfrastruktur getroffen wurde.

Die Folgen der Angriffe waren aber weit weniger drastisch als beim Drohnenbeschuss vom 19. Dezember, als mehrere Stadtteile rund drei Tage lang komplett ohne Strom bleiben mussten. Zu verdanken ist das einerseits den Rekordtemperaturen von mehr als zehn Grad, die zu deutlich weniger Strombedarf als üblich geführt haben. Zum anderen haben sich die Energiebetreiber in Kiew akribisch vorbereitet: Durch die maximale Verringerung des Industrieverbrauchs sowie die zusätzliche Reduzierung der Straßenbeleuchtung wollte man erreichen, dass alle Privathaushalte um dem 1. Jänner fast ununterbrochen Strom haben. Dies ist auch größtenteils gelungen, wenn auch in den U-Bahn-Stationen der Stadt nach dem Beschuss massenhaft die Drehkreuze ausfielen.

Eine andere Folge der Angriffe ist die stark gestiegene Nachfrage nach Tiefgaragen in Kiew. Weil in den vergangenen Tagen viele Autos durch Raketen- oder Drohnentrümmer beschädigt wurden, suchen zahlreiche Autobesitzer nun nach einer sicheren Lösung. Inzwischen gibt es sogar Dauerparkplätze, die pro Monat so viel kosten wie die Miete für eine Einzimmerwohnung.

Ein Termin als Botschaft

"Trotz der ganzen Anpassung in der Folge des Krieges kann man nicht ruhig bleiben, wenn es draußen knallt", sagt die Studentin Darja Boklan, die zu Silvester ein paar Freunde zu sich in die Wohnung eingeladen hatte. "Obwohl die Ansprache von Selenskyj und das Konzert im Fernsehen super waren, kam keine Feierstimmung auf."

Wie viele andere Menschen in Kiew hat Bojklan nun Sorge vor dem, was in den Tagen vor dem orthodoxen Weihnachtsfest am 7. Jänner kommen könnte. Denn es ist wohl kaum ein Zufall, dass Russland explizit zu Neujahr oder am 19. Dezember, dem in der Ukraine wichtigen Nikolaustag, an dem die Kinder Geschenke bekommen, angreift.

Diesmal hat der 7. Jänner jedoch auch einen zusätzlichen politischen Hintergrund. Zwar ist das katholische Weihnachten am 25. Dezember bereits seit ein paar Jahren ebenfalls ein gesetzlicher Feiertag. Im Dezember 2021 waren aber noch 58 Prozent der Ukrainer dagegen, Weihnachten ohne Blick auf die konkrete Konfession gemeinsam am 25. Dezember zu feiern. Laut der neuesten Umfrage der renommierten Rating Group sank der Anteil auf 31 Prozent. Ein knappes Drittel der Bürger möchte aber weiter nicht von der Tradition abweichen.