Mit 27 Jahren stürzte er mit einem Staatsstreich König Idris. | Finanzier des weltweiten Terrorismus, Exzentriker und Pragmatiker. | Nach jahrelanger Isolation Ausgleich mit dem Westen. | Tripolis. "Er ist ein Kamikaze, der nie die Kontrolle verliert." Mit diesen Worten beschrieb einmal ein französischer Diplomat Muammar Gaddafi, der sich im Bunker der Bab-al-Assiya-Kaserne in unmittelbarer Nähe seiner Residenz verschanzt hat und entweder als Sieger oder als Märtyrer aus dem Kampf hervorgehen will.
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Unberechenbarkeit und diplomatische Eskapaden prägten den Werdegang des libyschen Tyrannen, seit der erst 27-Jährige am 1. September 1969 in einem Staatsstreich den damaligen König Idris gestürzt und als Führer einer Militärjunta die Macht in dem ölreichen Wüstenstaat übernommen hatte.
1973 rief er in seinem Land die Kulturrevolution aus. Zwei Jahre später veröffentlichte er in Anlehnung an sein Vorbild Mao sein Grünes Buch, in dem er die Konzeption eines politischen Islam niederlegte.
Der "Bruder Revolutionsführer", der mit den Erlösen aus den Ölverkäufen Gratis-Sozialleistungen für seine Bevölkerung finanzieren und Libyen auf dem Bildungssektor und bei der Lebenserwartung einen Spitzenplatz in Afrika sichern konnte, schuf 1977 die Staatsdoktrin des unangefochtenen Herrschers der "Sozialistischen Libysch-Arabischen Volks-Jamahiriya (Herrschaft der Massen)" und lehnt eine parlamentarische Demokratie als Verfälschung des Volkswillens ab.
Freund der Tyrannen, Förderer des Terrors
Im Laufe der Jahre hat er die drei blutigsten Tyrannen des Kontinents - Kaiser Bokassa von Zentralafrika, Idi Amin von Uganda und Mobutu von Zaire - unterstützt und weltweit ohne ideologische Diskriminierung Guerilla- und Terrorgruppen finanziert, wenn sie sich nur als antiimperialistisch und antikolonialistisch geriert haben.
Seine Pläne verschiedener Vereinigungsprojekte mit arabischen und afrikanischen Staaten scheiterten. Mit dem Nachbarstaat Tschad kam es 1973 zu einem Grenzkonflikt, und obwohl 1987 ein Waffenstillstand geschlossen wurde, zogen die libyschen Truppen erst 1994 aus dem nördlichen Tschad ab.
Das Verhältnis Libyens zum Westen war lange durch seine Verstrickungen in den internationalen Terrorismus belastet.
So wurde Libyen unter anderem beschuldigt, hinter den Anschlägen auf die Flughäfen in Wien und Rom zu stehen, bei denen am
27. Dezember 1985 19 Personen starben.
Auch der im April 1986 auf die Berliner Discothek "La Belle" verübte Anschlag mit drei Toten und 300 Verletzten - das Lokal war bei US-Soldaten besonders beliebt - ging auf das Konto Libyens. Die USA antworteten mit der Bombardierung von Tripolis und Bengasi und töteten 44 Personen, darunter eine Adoptivtochter Gaddafis.
270 Personen starben bei dem Anschlag auf eine Pan-Am-Maschine über Lockerbie am 21. Dezember 1988, für den zwei Libyer verantwortlich gemacht wurden. Gaddafi weigerte sich jahrelang, die beiden auszuliefern. Die UNO verhängte daraufhin wirtschaftliche und diplomatische Sanktionen über Libyen, die erst nach der Auslieferung der Angeklagten im Jahr 1999 aufgehoben wurden.
2003 verkündete Gaddafi dann plötzlich, Terror und Aufrüstung seien sinnlos. Er erklärte sich bereit, die Unterstützung von Extremistengruppen zu beenden und alle Programme zur Entwicklung von Massenvernichtungswaffen einzustellen. Nachdem sich Gaddafi auch für den Lockerbie-Anschlag verantwortlich erklärte und Entschädigungszahlungen an die Hinterbliebenen zustimmte, hob der UNO-Sicherheitsrat seine Strafmaßnahmen auf. 2006 strichen die USA Libyen von ihrer Terrorliste und die EU-Staaten nahmen teils intensive Wirtschaftsbeziehungen auf.
Der exzentrische Staatschef blieb in den folgenden Jahren seinem Ruf aber treu. Bei den Vereinten Nationen wollte er einen Antrag auf Auflösung der Schweiz durchbringen. Zuvor waren sein Sohn Hannibal und dessen Ehefrau in Genf beschuldigt worden, zwei Hausangestellte in der Schweiz misshandelt zu haben. Gaddafi ließ daraufhin zwei Schweizer Geschäftsleute festnehmen. Nach dem Votum der Schweizer zum Minarettverbot rief Gaddafi sogar zum Heiligen Krieg gegen die Schweiz auf.
Affäre um bulgarische Krankenschwestern
Auch mit Bulgarien lieferte sich Gaddafi einen jahrelangen Kampf: Fünf bulgarischen Krankenschwestern und einem Arzt palästinensischer Herkunft wurde vorgeworfen, mehr als 400 Kinder absichtlich mit dem HI-Virus infiziert zu haben. Sie saßen achteinhalb Jahre in Haft und wurden im Gefängnis auch gefoltert. Experten hatten zwar nachgewiesen, dass die Epidemie in dem libyschen Kinderkrankenhaus wegen schlechter Hygiene ausgebrochen war. Erst franko-libysche Verhandlungen und die Vermittlung der damaligen EU-Kommissarin Benita Ferrero-Waldner führtenaber zur Freilassung.