Knapp 150 Jahre nach seinem gewaltsamen Tod am 2. September 1874 stirbt Winnetou, der legendäre Häuptling der Apachen, ein zweites Mal. Es ist nicht die Kugel eines feindlichen Sioux, die ihn jetzt trifft, sondern eine knatternde, aus den Sozialen Medien abgefeuerte Salve von Empörungen, denen er zum Opfer fällt. Besorgte Zeitgenossen wollen in zwei Kinderbüchern, die der Verlag Ravensburger begleitend zum Start des Films "Der junge Häuptling Winnetou" anbot, blanken Rassismus am Werke sehen. Das Unternehmen hat sich aufgrund der Proteste zerknirscht gegeben und die Büchlein gleich wieder eingestampft. Vom Mut des edlen Wilden ist nicht viel geblieben. Feigheit, wohin man schaut.

Ärgerlich ist gar nicht so sehr die Kritik an dem Film, der parasitär am Winnetou-Mythos nascht und dabei nicht nur Wildwest-Klischees reproduziert, sondern auch jene idyllische Verklärung jugendlicher Begabungen betreibt, die ansonsten beflissen akklamiert wird. Ärgerlich ist nicht einmal das Einknicken von Verlagen oder Veranstaltern vor meist anonym vorgetragenen Bekundungen des Unwohlseins angesichts dunkel geschminkter Gesichter oder Dreadlocks auf hellhäutigen Köpfen. Umzingelt von Diversitäts- und Sensitivity-Beauftragten werden diese Häuser zum eigenen Schaden bald ohnehin hauptsächlich gähnende Langeweile produzieren. Nein, ärgerlich ist in diesem Fall, dass das gehobene Feuilleton Verständnis für diese Zensurmaßnahmen zeigt und Karl May und seine Indianer flugs einem rassistischen und kolonialistischen Narrativ unterwirft.
Das dümmste unter den bis zum Erbrechen wiedergekäuten Argumenten ist der Einwand, dass Karl Mays Fantasiewelten mit der Wirklichkeit nicht übereinstimmten. Wäre dieser triftig, müsste die Literatur von Homer bis Michael Köhlmeier ebenso gecancelt werden wie alle Filme, die einen fiktionalen Anspruch haben und der Einbildungskraft keine Grenzen setzen. Karl Mays Helden lassen sich durchaus als Prototypen jener übermenschlichen Figuren verstehen, die sich von Superman bis Wonder Woman allgemeiner Beliebtheit erfreuen. In ihrem Denken, Handeln und Fühlen können Winnetou und Old Shatterhand mit diesen Ikonen der Popkultur allemal mithalten.
Aber die Botschaft dieser Romane! Die offene Diskriminierung der indigenen Völker Amerikas! - Was für ein Unsinn! Wer ein paar Zeilen der Winnetou-Trilogie gelesen und nicht nur die unsäglichen Verfilmungen der 1960er Jahre gesehen hat, weiß, dass Karl May einer der Ersten und Wenigen war, der den Völkermord an den Ureinwohnern Nordamerikas benannt und heftig kritisiert hat. Es stimmt: Er huldigte einem christlich geprägten und deutschnational angehauchten paternalistischen Überlegenheitsgefühl. Dennoch hatte er einen scharfen Blick für Ausbeutung, Unterdrückung und Ungerechtigkeit. Sein literarisches Alter Ego kämpft gegen den Ku-Klux-Klan, und Winnetou unterstützt in Mexiko den indigenen Politiker Benito Juárez gegen den Imperialismus des dritten Napoleon, dem übrigens Maximilian von Habsburg als Marionette diente. Und die selten gelesenen Afrika-Romane Karl Mays enthalten aufrüttelnde Anklagen gegen Sklaverei und Sklavenhandel.
Dass ein Schriftsteller des 19. Jahrhunderts, der seine Imaginationen von fernen Ländern und fremden Kulturen auf zeitgenössische Reiseberichte stützte, deren Fehler und Vorurteile übernahm, ist nicht besonders verwunderlich. Vieles wissen wir heute besser, und in vielem irren wir uns vielleicht noch immer. Diese historische Distanz zu berücksichtigen, sollte für die angeblich gebildetste Generation, die es je gegeben hat, nicht zu viel verlangt sein. Es gibt deshalb keinen Grund, diesen schon zu Lebzeiten mit Prozessen eingedeckten Autor ausufernder Kolportage- und spannender Abenteuerromane nun den moraltriefenden Geiern der Cancel Culture zum Fraß vorzuwerfen.