"Sehen Sie die zwei Einkerbungen hier oben an den Augenhöhlen? Sie stammen von den Krallen eines Greifvogels, der das Kind wegtrug", sagt Lyzanne. Raymond Dart erkannte in dem Fossil eine neue Hominiden-Art, die er Australopithecus africanus nannte. Sein Fund fand allerdings erst nach seinem Tod wissenschaftliche Anerkennung – das äußerst wertvolle Fossil diente ihm jahrelang als Briefbeschwerer.

"Menschliche Fossilien sind extrem selten. Insgesamt wurden weltweit gerade einmal 3000 gefunden, davon 1200 im ‚Cradle of Humankind‘. Manchmal handelt es sich nur um einen Zahn. Und mit diesen Puzzlestücken müssen wir sieben Millionen Jahre Entwicklungsgeschichte rekonstruieren", sagt Colin Menter, der die Ausgrabungen von Drimolen leitet. "Das lässt uns Paläoanthropologen viel Raum für unterschiedliche Interpretationen."
So nahm man jahrzehntelang an, dass die Evolution des Menschen geradlinig stattfand. Heute weiß man, dass die Stammesgeschichte von Homo sapiens eher einem verzweigten Kaktus gleicht. Mehrere Hominiden-Arten lebten gleichzeitig, manche starben aus, andere entwickelten sich weiter.

Der genaue Ablauf wird heftig debattiert. Streitpunkte unter Experten sind unter anderem, wann die Gattung Homo ihr Fell verlor, wann genau die Enzephalisation begann, also die massive Volumenzunahme unseres Gehirns, und ob Fleisch als energiereiche Nahrung dafür notwendig war oder nicht.

Nach Lyzannes unterhaltsamer Fossilienvorstellung zeigt sie die Ausgrabungsstätte, an der Colin Menter und eine australische Studentengruppe beschäftigt sind. Kniend befeuchten die Wissenschafter die Erde mit einer Sprühflasche, kratzen sie mit Minirechen auf und fegen die Erdkrümel mit Puderpinseln weg.
"Seit 15 Jahren wird hier gegraben und es wurden schon über 80 Hominiden-Fossilien entdeckt", sagt Lyzanne. Das Besondere an Drimolen seien die vielen Babyfossilien. "Die Höhle hatte einen vertikalen Eingang. Es gelangten also nur Lebewesen hinein, die klettern konnten. Wir vermuten, dass Babys und Kleinkinder hier in Sicherheit gebracht wurden und dass hier geschlafen wurde."
Hauptsächlich finden die Studenten aber winzige Vogel- und Rattenknochen sowie Pavianfossilien. "Das hier stammt von einer ausgestorbenen Pavianart und ist rund 2,5 Millionen Jahre alt", sagt Lyzanne und holt einen massiven Backenzahn aus einem Tütchen.
Auch der neueste Hominiden-Fund im Weltkulturerbe sorgt in der Fachwelt für Uneinigkeit. 2010 beschrieb Lee Berger eine neue Art: Australopithecus sediba. Diese ist laut Berger eine Übergangsform zwischen den eher affenähnlichen Australopithecus-Arten und den ersten Mitgliedern unserer eigenen Gattung Homo. So weist A. sediba kleine menschenähnliche Zähne auf und eine schmale Taille, die das aufrechte Gehen vereinfacht haben könnte. Allerdings lassen die Beine und Füße dieser Vormenschenart auf eine kletternde Lebensweise in Bäumen schließen. Das wiederum passt nicht ins Bild. Denn warum konnte A. sediba, der menschenähnlichste aller Australopithecinen, noch so gut klettern? Wo doch die anderen Australopithecinen bereits in der Savanne lebten?