Der "Pensionsschock" ist eines dieser Gespenster, von denen jeder schon einmal gehört hat. Doch die Wirklichkeit sieht ganz anders aus, sagt der Soziologe Franz Kolland. Für die meisten Berufstätigen gibt es keinen Pensionsschock. Für die meisten beginnt mit dem Ruhestand eine lange ersehnte Zeit der Freiheit.

Heinrich Lohse wirft schwungvoll Bettdecken aus dem Fenster. Eigentlich wollte er sie nur zum Lüften aufs Fensterbrett legen, aber im Moment macht er alles, was er anpackt, mit zu viel Schwung. Er wurde nämlich überraschend in den Ruhestand versetzt. Oder wie er es formuliert: "Generaldirektor Blume und ich sind übereingekommen, dass ich meine Arbeitskraft künftig weniger, also eher gar nicht, auf die Firma konzentriere und dafür meine Erfahrung meinem Heim und dem Wohl meiner Familie widme." "Was sagst du da?", erwidert seine Frau betreten, worauf Lohse bekräftigt: "Es ist eine neue, mehr ins private zielende Tätigkeit."
Diese Szene aus dem Film "Pappa ante portas" von Loriot ist der Auftakt zu einer turbulenten Katastrophe, nämlich dem Ruhestand des Managers Heinrich Lohse. Bei "seiner neuen, mehr ins private zielenden Tätigkeit" versucht er, die überschüssigen Energien abzubauen, die nach dem überraschenden Ende seiner Berufstätigkeit frei werden. Er stürzt sich so vehement in den Ruhestand als "Tätigkeit", dass seine Ehe daran zu zerbrechen droht.
Loriot hat mit diesem Film 1991 die Karikatur eines Zustands gezeichnet, der den Medienkonsumenten unter dem Namen "Pensionsschock" vertraut war. "Diese Theorie entstand Mitte der 60er Jahre", erklärt Franz Kolland, Soziologe an der Universität Wien und Spezialist für Altersforschung. "Manchmal war sogar die Rede vom ‚Pensionierungstod‘. Damit war die Botschaft verbunden, dass die Pensionierung ein Problem wäre."

Die überwiegende Mehrheit

Später, als wirklich empirisch abgesicherte Studien vorlagen, haben die Soziologen allerdings keine Hinweise auf so etwas wie einen Pensionsschock entdecken können. Nur in einer speziellen Gruppe der Gesellschaft gab es Hinweise darauf, dass der Übergang in den Ruhestand besondere psychische Schwierigkeiten mit sich bringt, nämlich bei Leuten mit gehobenen Positionen in Verwaltung und Wirtschaft, für die der neue Lebensabschnitt einen deutlichen Verlust von Macht und Einfluss mit sich bringt. "Aber für die überwiegende Mehrheit", betont Kolland, "bedeutet der Übergang in die Pension den Schritt zur lange ersehnten Freiheit. Die meisten Österreicher wissen vermutlich besser über ihren Stichtag Bescheid als über ihren Hochzeitstag."
Ansonsten ist der "Pensionsschock" wirklich nicht mehr als ein Mediengespenst, ein Märchen, das sich deswegen so hartnäckig hält, weil es gut zu den "Defizittheorien des Alters" passt, die in Frage zu stellen Soziologen wie Kolland nicht müde werden.

In einer Gesellschaft, in der die Lebenserwartung kontinuierlich steigt, nehmen sich Sichtweisen, die das Alter in erster Linie als problematische Lebensphase sehen, anachronistisch aus. Bei einem seiner Vorträge, erzählt der Soziologe, meldete sich eine Zuhörerin und sprach über eine Bekannte, die 67 Jahre alt sei und "nur noch vor sich hin vegetiere". Aber das sind Einzelfälle, erklärt der Soziologe immer wieder, Einzelfälle, die es auch in anderen Lebensphasen geben kann und die, weil die spezielle Person im Ruhestand ist, fälschlicherweise mit dem Alter in Verbindung gebracht werden.
"Nein", sagt Kolland energisch. "Das Alter allein ist nicht dafür ausschlaggebend, wie wir unser Leben gestalten", und berichtet von einer Dissertation, die erst kürzlich an seinem Institut vorgestellt wurde. Darin ging es um die Lebensumstände alternder Obdachloser, einer Gruppe, die viele Jahre unter extrem schwierigen Bedingungen gelebt hat. Diese Studie zeigt, dass sogar diese Menschen, deren Existenz an dem sprichwörtlichen seidenen Faden hängt, im Alter noch Zukunftsvorstellungen entwickeln.

 Synchronisierung

Auf der anderen Seite gibt es im Leben der Durchschnittsmenschen, die weder einflussreiche Manager noch prekär überlebende Obdachlose sind, kaum Markierungen, die so klar sind wie der Übergang in den Ruhestand. Der Zeitpunkt ist normalerweise lange im Voraus bekannt, die materiellen Bedingungen sind in einem System wie dem österreichischen einigermaßen klar. Für die meisten Menschen bedeutet dieser Übergang daher eine Chance, eine Zeit des Aufbruchs.
Ein heikler Punkt ist allerdings, wie Kolland einräumt, die Synchronisierung der Partnerschaft in dieser Zeit. Wie sagt Margarethe Lohse, die Frau des pensionierten Managers, im Film? "Ich bin siebzehn Jahre lang sehr gemütlich verheiratet gewesen. Heinrich war in seiner Firma den ganzen Tag sehr gut aufgehoben. Hat auch nie gestört." Als sie von einer Freundin daran erinnert wird, dass sie sich in früheren Tagen beklagte, ihr Ehemann hätte nie Zeit, erwidert sie: "Ich habe ja nicht gewusst, wie es ist, wenn er Zeit hat." Die Freundin rät ihr, sich ihrerseits einen Job zu suchen, um mit der Pensionierung ihres Managergemahls besser zurecht zu kommen und fügt weise hinzu: "Ehepaare sind nur glücklich, wenn einer nie Zeit hat."

In gewisser Weise trifft die Szene durchaus den Nagel auf den Kopf. Die Altersgruppe jenseits der 65 ist derzeit die einzige, in der aktuell die Scheidungsraten steigen, während sie bei anderen Gruppen der Bevölkerung zurückgehen. Vor allem, wie Kolland erklärt, Ehen, in denen die Frau noch arbeitet, während der Mann bereits zu Hause ist, kommen leicht in Schwierigkeiten. Da aber viele Frauen im Laufe ihres Lebens weniger Beitragsjahre gesammelt haben, besteht für sie oftmals die Notwendigkeit, länger zu arbeiten, um die Höhe der Pension zu verbessern, die sie später zu erwarten haben. Damit verändert sich die Balance in der Beziehung und schafft eine neue Situation, mit der das Paar erst umzugehen lernen muss. "Aber leider", sagt Kolland, "tendieren Paarbeziehungen generell zu mangelnder Lernbereitschaft."

"Lernbereitschaft" – das ist generell das Stichwort, wenn es um den Übergang in die Pension geht. In vielen Ländern, vor allem in der Schweiz und in Skandinavien, ist es durchaus üblich, Kurse zur Vorbereitung auf den Ruhestand zu besuchen. In diesen Ländern bieten viele Firmen ihren Mitarbeitern, oft auch gemeinsam mit dem Partner, entsprechende Seminare an. Margret Bürgisser zum Beispiel, die in Luzern ein "Institut für Sozialforschung" betreibt, befasst sich mit diesem Übergang. Unter dem Titel "Noch voll dabei" hat sie zur Anregung eine Serie von Porträts älterer Menschen zusammengestellt, die ihr Leben jenseits der Berufstätigkeit bewusst gestalten. Darin bringt zum Beispiel der 89-jährige Förster Walter Kälin, der sich seit seiner Pensionierung in Zusammenarbeit mit einer Universität der Erforschung eines Urwaldreservats widmet, seine Erfahrung auf den Punkt: "Man muss selbst schauen, dass man im Alter nicht alt wird und die Lebensqualität behalten kann." Und Urs Weber, der 82-jährige ehemalige Sportlehrer, der im Ruhestand Fitnessprogramme für Senioren gestaltet, berichtet, dass seine Frau dieses Engagement mit Nachdruck unterstützt hat: "Schau rechtzeitig, dass du noch etwas machen kannst. Ich möchte dich dann nicht immer zu Hause haben."

Lernbereitschaft zeigt ja auch das Ehepaar Lohse im Film "Pappa ante portas". Der Film endet damit, dass sich die beiden ihren Blockflöten widmen und ihren Sohn und die Putzfrau zwingen, sich die schauerlichen Konzerte anzuhören, die sie veranstalten, um ihre Ehe zu retten. Aber das ist natürlich eine Satire im Stile Loriots. Für die meisten Paare, die mit dem Übergang in die neue Freiheit zurechtkommen müssen, gibt es wahrscheinlich weniger brachiale Möglichkeiten, ihr Leben neu zu gestalten.

Checkliste für die persönliche Standortbestimmung
(Für Menschen in der Phase vor der Pensionierung, ab 50)

Wie stellen Sie sich Ihre Pensionierung vor? Was möchten Sie dann hinter sich lassen, was neu dazugewinnen?
Was verstehen Sie unter Lebensqualität? Welche Möglichkeiten sehen Sie, diese nach der Pensionierung weiter zu verbessern?
Welche Aktivitäten, die Sie heute ausüben, möchten Sie nach der Pensionierung beibehalten? Können Sie sich vorstellen, Ihr berufliches Know-how nach der Pensionierung weiterhin anzubieten? In welchem Rahmen?
Welche Möglichkeiten möchten Sie sich nach der Pensionierung neu erschließen (beruflich, familiär, im Freizeitbereich)? Welche Ansatzpunkte dafür kennen Sie?
Welche Möglichkeiten für Aktivität und Engagement haben Sie bisher nicht wahrgenommen, obwohl sie Ihnen attraktiv erschienen? Was könnten Sie nach der Pensionierung tun, um diesen Möglichkeiten mehr Raum zu geben?
Haben Sie den Eindruck, in Ihrem Berufsleben eher einseitig gefordert zu werden? Müssen Sie Teile Ihrer Persönlichkeit zurückstellen, sodass diese zu kurz kommen? Welche Möglichkeiten sehen Sie nach der Pensionierung, um diesen anderen Seiten Ihrer Persönlichkeit zur Entfaltung zu verhelfen?
Können Sie sich nach der Pensionierung ein freiwilliges Engagement zugunsten ausgewählter Gruppen (Behinderte, Bedürftige, Kranke, Kinder etc.) vorstellen? Wissen Sie, wo Sie entsprechende Angebote finden?
Welche Möglichkeiten nutzen Sie, um möglichst lange gesund und fit zu bleiben? Kennen Sie Angebote, die Sie dabei unterstützen (Ernährung, Sport, Gesundheitspflege)?
Erinnern Sie sich an Aktivitäten und Hobbys aus Kindheit und Jugend (musizieren, kreativ tätig sein, Sport treiben), die Sie nach der Pensionierung wieder aufgreifen können? Wo finden Sie die dafür nötige Unterstützung beziehungsweise geeignete Partner?
Welche Veränderungen wird die Pensionierung voraussichtlich für Ihren privaten Bereich, Ihre Partnerschaft, nach sich ziehen? Können Sie sich vorstellen, die Rollen zu Hause neu zu verteilen oder gar zu tauschen?
Welche Freiräume können sich durch Ihre Pensionierung für Ihre(n) Partner(in) ergeben? Wie können Sie ihn (sie) darin unterstützen, eigene neue Aktivitäten zu entwickeln?
Welche Art von Beziehung wünschen Sie sich für die Zeit nach der Pensionierung? Was werden Sie unternehmen, um Ihren Freundes- und Bekanntenkreis über die Pensionierung hinaus zu erhalten und zu pflegen?
Bereitet Ihnen Ihre Pensionierung Sorgen? Fürchten Sie sich zum Beispiel vor Isolierung, Einsamkeit, materiellen Engpässen? Wissen Sie, wo Sie Hilfe finden können?
Aus Margaret Bürgisser: "Noch voll dabei. Wie Menschen im Alter aktiv bleiben." OrellFüssli Verlag, 2006. 200 Seiten.

 Artikel erschienen im Wiener Journal von 27.10.2017