Zu Beginn Grundlegendes. Die anstehende Saison der Skispringerinnen und Skispringer wird uns noch genügend Zeit geben, um über technische Details, aerodynamische Studien, Sprungkurven, Anlaufpositionen und Sprungstile zu schwadronieren. Doch bevor wir dies tun, widmet sich dieser Text dem Kern der Sportart. Ihrem alles zugrundeliegenden, essentiellen Innersten - ihrer Ästhetik. Denn Skispringen ist keinesfalls - wie fälschlicher Weise von der Allgemeinheit vermutet - eine gewöhnliche Sportart, sondern verwandelt sich im Idealfall in einen Ausdruck von Schönheit.

Der Athlet jagt mit bis zu 110 Stundenkilometer die Anlaufspur hinunter, springt ab, wirft seinen Oberkörper, entgegen jeglichem menschlichen Instinkt, todesmutig nach vorne, um in einem grazilen Akt, wie von Geisterhand, durch die Luft zu gleiten. Der Traum vom Fliegen. Hierbei geht es nicht nur darum, möglichst weit zu springen, sondern dies auch möglichst schön zu tun. Nicht umsonst vergeben die Sprungrichter sogenannte Haltungsnoten. Außerdem bedingt ein weiter Sprung einen ästhetischen Sprungstil. Der Einwand, Ästhetik liege im Auge des Betrachters, gilt beim Skispringen nur bedingt. Denn ein fragil schwebender Körper wirkt nun einmal graziler als ein plump zu Boden fallender. Das ist ein Gesetz, so ähnlich wie der Goldene Schnitt.
Unsere aufgeklärten Welt kennt vier "Schöne Künste": die Bildende Kunst, die Musik, die Literatur und die Darstellende Kunst. Es wäre nur zu gerecht, diesem Quartett der Hochkultur eine fünfte Kunst hinzuzufügen. Die Kunst des Sprunglaufs. Denn so wie der geniale Musiker, hat der geniale Skispringer die Gabe, die Seele der Menschen zu berühren.
Der perfekte Sprung
Als erster Skispringer erhielt Anton Innauer bei Skifliegen 1976 im bayrischen Oberstdorf fünfmal die höchste Haltungsnote 20,0 - nebenbei sprang er Weltrekord. Der perfekte Flug. In knallroter Springermontur schwebte er über den Aufsprunghügel der Heini-Klopfer-Skiflugschanze, die Skier, wie mit dem Lineal vermessen, parallel vor sich herschiebend. Bei unglaublichen 176 Meter setzte er einen lupenreinen Telemark in den Schnee. Mit seinen 18 Jahren hatte er zur Formvollendung gefunden. Ein Michelangelo des Skisprungs.
Der Schwede Jan Boklöv, ein anderer Revolutionär des Sprungsports, wäre, um beim Vergleich zu bleiben, wahrscheinlich Pablo Picasso oder Wassily Kandinsky. Er erfand eine neue Bildsprache. Die Boklöv-Schere, später unter dem Begriff V-Stil bekannt, passierte ihm infolge eines Absprungfehlers im Training. Seltsam anmutend spreizte er die Skier in Form eines V vom Körper ab. So bot er dem Wind eine größere Angriffsfläche und flog weiter. Diese Technik perfektionierten in den 1990er-Jahren vor allem die Japaner. Der große Kazuyoshi Funaki senkte den Kopf zwischen die Skispitzen und flog quasi zweidimensional wie ein Blatt Papier auf einem Polster aus Luft in die Tiefe.
Eine neue Stilrichtung
Heute fallen vor allem die Slowenen mit ihrem schönen Sprungstil auf. Peter Prevc – der erste Mensch, der auf die 250 Metermarke sprang – fliegt ein überdurchschnittliches breites V. So breit, dass man eigentlich von einem Trapez sprechen kann. Im März 2015 erhielt er dafür fünfmal die selten gezückte Haltungsnote 20,0. Vielleicht läutet Prevc damit ja eine neue Stilrichtung im Sprungsport ein. Die Zeit des Post-V´s vielleicht. Denn Skispringer folgen Moden. Auch das rückt sie in die Nähe der Hochkultur.