Franz Rinnhofer geht in die Hocke. Die Arme aerodynamisch am Körper angelegt schießt er mit ratternden Skiern die pickelharte Spur hinunter. Punktgenau trifft er den Absprung. Mensch und Ski schweben über den Aufsprunghügel. Im Hintergrund ziehen der Stephansdom und die Karlskirche vorbei. Bei 46 Metern setzt Rinnhofer mit einem sauberen Telemark auf – Schanzenrekord, Zuschauerjubel. Wir schreiben den 19. Februar 1978. Wahrscheinlich wird Rinnhofer nicht ahnen, dass er mit diesem Satz soeben eine Ära begrub - die Ära des Skisprunglaufs in Wien.

Denn der historische Wettkampf auf der Himmelhofschanze im Wiener Bezirk Penzing sollte bis heute der letzte auf dem Boden der Bundeshauptstadt bleiben. Zwei Jahre später brannte die Holzkonstruktion des Sprungturms völlig aus. Seither gab es zwar immer wieder Pläne, den Sport zurück in die Stadt zu holen, realisiert wurde allerdings keiner.

Adler, mit gestutzten Flügeln

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Zuletzt pochte der Skisprungklub Wiener Stadtadler an die Türen der Stadtregierung. Der relativ junge Verein betreut über 40 Athleten zwischen sieben und 18 Jahren. "Wir wünschen uns einen Komplex aus drei Schanzen, vorwiegend für Kinder und Jugendliche", sagt Christian Moser, Sportlicher Leiter der Stadtadler. Optimal wären eine 15-, 30- und 60-Meter Schanze, damit sich junge Springer soweit entwickeln, bis sie in ein Skigymnasium oder eine Leistungssportschule gehen könnten. Sechs der Wiener Stadtadler haben dieses Ziel bereits erreicht. Sie trainieren in den renommierten Skigymnasien Stams und Saalfelden.

Doch Moser hat noch andere Rohdiamanten in seinem Kader. Um diese zu schleifen, benötigt er allerdings Schanzen. Nahe der Hohe-Wand-Wiese in Penzing wäre ein idealer Standort, auf dem schon einmal eine Schanze stand. "Das Gebiet ist trichterförmig und somit windgeschützt." Es kämen allerdings viele Orte infrage. "Solange in Wien und Umgebung Schanzen gebaut werden, sind wir zufrieden", sagt Moser. Inwieweit sich dieser Wunsch erfüllen wird, ist momentan nicht absehbar. Man führe lose Gespräche mit der Stadt Wien, konkrete Pläne gibt es allerdings nicht.

Schon im Jahr 2002 versuchten Studenten der Technischen Universität den Sprungsport in Wien zu reanimieren. Sie legten ein preisgekröntes Projekt einer modernen 90-Meter-Schanze am Himmelhof vor. Der Sprungturm sollte ein "Wahrzeichen für die Westeinfahrt" Wiens mit einem "fliegenden, schwebenden" Charakter sein. Auch dieses Projekt scheiterte.

Schanzen inmitten der Stadt

Und so kann in Wien nun schon seit 35 Jahren nicht mehr Ski gesprungen werden. Dabei hat der Sport hier ungeahnte Tradition. Um die Jahrhundertwende gab es Schanzen und Sprunghügel in Kaltenleutgeben, Hütteldorf, Grinzing, Pötzleinsdorf, Neuwaldegg und auf der Schmelz. Die drei größten entstanden aber erst einige Jahre später am Cobenzl, im Kasgraben in Hadersdorf-Weidlingau und am besagten Himmelhof.

1931 pilgerten sogar 20.000 Schaulustige zu einem internationalen Bewerb auf der Cobenzl-Schanze, obwohl der Sieger schon bei mageren 38 Meter landete. Kein allzu weiter Satz in einer Zeit, in der die Elite im slowenischen Planica bereits an der 100-Meter-Marke kratzte. Neun Jahre später wurde ausgebaut. Beachtliche Weiten von bis zu 60 Meter ließ die neue Anlage nun zu. Nur auf einer Schanze Wiens blieben die Springer noch länger in der Luft – denn in Hadersdorf-Weidlingau wurde bis zu 70 Meter weit geflogen.

Doch auch an diesen Symbolen des lokalen Sprungsports nagte die Katastrophe des 20. Jahrhunderts – der Zweite Weltkrieg. In den Jahren danach begannen sie zu verfallen. Alle Versuche, sie zu revitalisieren, scheiterten. So sollte bereits kurz nach Kriegsende auf dem Cobenzl ein neuer Bakken errichtet werden. Der Wiener Arbeiter Turnverein schrieb einen Architekturwettbewerb aus, den Adolf Hoch mit einem bemerkenswerten Projekt gewann. Sein Entwurf sah eine 60-Meter-Schanze mit Amphitheater-artigen Zuschauerrängen vor. Wie heute am Osloer Holmenkollen oder auf der Bergisel-Schanze in Innsbruck wären die Springer in einen Kessel gefüllt mit 25.000 Zuschauern gesprungen. Im Sommer sollte die Anlage für Theateraufführungen, Konzerte und Boxveranstaltungen genutzt werden. Die Pläne von Hoch gewannen bei den Olympischen Spielen 1948 in London sogar die Goldmedaille in der – damals noch ausgetragenen – Kunstdisziplin Architektur, umgesetzt wurden sie allerdings nie. Genauso wie in den 1960er-Jahren die Idee, auf dem damals schon verfallenen Areal in Hadersdorf-Weidlingau eine moderne 50-Meter-Schanze zu bauen.

Im Skisprung-Fieber

Einzig am Himmelhof wurde bis in die späten 1970er-Jahre gesprungen. Als sie die Ski-Union Wien die Schanze in den Jahren 1948 und 1949 hochzog, erfreute sich der Sprungsport wachsender Popularität. Um inmitten der Stadt Skispringen zu können, karrten freiwillige Helfer händisch Bauholz an, bewegten um die 300 Kubikmeter Erde und überdachten einen Hohlweg, der ein Teil des Aufsprungs wurde. Am 12. Jänner 1953 wurde am Himmelhof um den Wiener Meistertitel im Spezialspringen gekämpft. Die Sportart erlebte damals ihren Höhepunkt. Der Österreicher Josef "Bubi" Bradl galt als der beste Springer der Welt, und selbst in Wien sahen 20.000 begeisterte Zuschauer den Ober St-Veiter Franz Rabensteiner mit 36 und 36,5 Metern siegen. Doch schneearme Winter brachten das Interesse der Wiener zum Stocken, bis eben Franz Rinnerhofer den letzten Wettkampfsprung auf der Schanze absolvierte.

Seither ist es in der Hauptstadt still um den Skisprungsport  geworden. Weit und breit kann nirgends gehüpft werden. Die Wiener Stadtadler müssen weit reisen, um springen zu können. Im Sommer trainieren sie meist im steirischen Mürzzuschlag, im Winter in Bischofshofen und Saalfelden. Doch die Hoffnung stirbt zuletzt, dass auch in Wien wieder die Massen zu einer städtischen Schanze pilgern.