Skispringen 1995: Tausende Blicke sind gespannt in Richtung Sprungturm gerichtet. Die Zuschauer sehen einen Punkt am oberen Ende der Anlaufspur mühsam auf den Startbalken rutschen. Es wird leise an der Schattenbergschanze in Oberstdorf. Der Punkt stößt sich ab. Nach einigen Metern verschwindet er im Radius des Anlaufs. Die Sekunden ziehen sich. "Springer kommt", kracht es endlich aus den Lautsprechern, bevor der Punkt - mittlerweile klar als der deutsche Springer Jens Weißflog identifizierbar - über den Köpfen des Publikums durch die Luft zischt. Jubel brandet auf. Weißflog setzt einem lupenreinen Telemark in den Schnee. Der Knall aufschlagender Skier hallt durch das Tal.
Gleicher Ort, 20 Jahre später. Den Punkt am oberen Ende des Anlaufs beachtet niemand. Also schon, aber nur indirekt als überdimensionierten Skispringer auf einer Videowall im Zuschauerraum. "Ich bin der Anton aus Tirol", dröhnt es lautstark durch die Erdinger Arena. Ein riesiges, aufblasbares Signet eines Versicherungsanbieters versperrt einigen Zuschauern die Sicht zur Schanze. Rot-weiße Heißluftballons werfen ihre Schatten auf den Auslauf. Fahnen mit Bierwerbungen werden geschwungen. Es ist eine feuchtfröhliche Party. Ein Megaevent.
Der Skisprung ist in den vergangenen beiden Jahrzehnten zunehmend ins Fahrwasser der freien Marktwirtschaft geraten. Vor allem die Vierschanzentournee dient den großen Unternehmen als Werbefläche. TV Sender formten aus der Traditionsveranstaltung ein mediales Event. Natürlich war die Tournee bereits bei ihrer Gründung 1952 darauf ausgelegt, Zuseher anzuziehen. Doch spätestens mit dem Einstieg des Hauptsponsors Intersport Anfang der 1970er Jahre beschritt man den Weg unaufhaltsamer Kommerzialisierung.
Dieser Vermarktung musste sich die Sportart unterordnen. Entscheidende Änderungen des Reglements sollten Einschaltquote und Werbewert steigern. So führte man Mitte der 1990er Jahre das - aus sportlicher Sicht sinnfreie - K.o.-System ein. Mit den Erfolgen der deutschen Springer Martin Schmitt und Sven Hannawald roch der Privatsender RTL den lukrativen Braten. Er übernahm im Jahr 2000 die Fernsehrechte und griff massiv in die Veranstaltung ein. Die Springen in Oberstdorf und Bischofshofen wurden bei Flutlicht ausgetragen, weil sich der Sender abends mehr Zuschauer versprach. Durch Split-Screens wurden Sprünge und Werbung gleichzeitig gesendet. Nach jeweils zehn Springern musste unterbrochen werden, um über den ganzen Bildschirm Werbung zu senden. Als die deutsche Mannschaft Mitte der 2000er Jahre in ein Formtief rutschte, sprang RTL wieder ab. Die Werbeunterbrechungen blieben - schließlich wollen auch die öffentlich-rechtlichen Sender ORF und ZDF mitnaschen.
Zu einem gewissen Grad braucht der Skisprung - der nicht breitentauglich ist - die Wirtschaft, um als Profisport zu überleben. Wurde er früher von der Politik instrumentalisiert, so ist es jetzt die Wirtschaft, die die Fäden zieht. Doch der Sport selbst bleibt auf der Strecke. Seine ihm innewohnende Ästhetik verschwindet hinter Werbebannern. Mit dem Geräusch aufschlagender Skier nimmt man ihm auch einen Teil seiner Schönheit.