Skispringer vermeiden das Wort Angst. Wenn sie das Gefühl vor dem Sprung beschreiben, sprechen sie meist von Respekt. Geht es ans Skifliegen wirkt der Begriff allerdings wie ein Euphemismus. Die bleichen Gesichter der Springer sprechen für sich. Lediglich ehemalige Athleten nennen die Dinge beim Namen.
So erzählte der Schweizer Skiflieger Walter Steiner nach seinem Rücktritt Ende der 1970er-Jahre, er habe seinen Konkurrenten nie beim Fliegen zugesehen - aus Angst vor Stürzen. Die Auslaufradien nannte er "potentielle Todesfallen". "Beim Skifliegen hat jeder Angst", erklärte 2001 auch der damalige Bundestrainer der deutschen Nationalmannschaft Reinhard Heß. "Regelmäßig nach so einer Veranstaltung klappen mir meine Jungs ab".
Von null auf 100 in 2,5 Sekunden
Kein Wunder, denn die Angst ist berechtigt. Beim Skifliegen beschleunigt der Springer – ähnlich einem Formel 1 Auto - von null auf 100 in 2,5 Sekunden. Entgegen jedem menschlichen Instinkt wirft er seinen Körper mit etwa 110 Stundenkilometer an der Absprungkante möglichst horizontal ins Leere. Im Idealfall schwebt er auf einem thermischen Polster in acht Meter Höhe acht Sekunden lang über eine Distanz von zwei Fußballfelder. Dabei gewinnt er kontinuierlich an Geschwindigkeit, bevor er mit 130 Stundenkilometer unter einem Landedruck von vier g aufsetzt.
Beim Skifliegen ist der Körper extremen psychischen und physischen Belastungen ausgesetzt. Vor allem die enorme Geschwindigkeit setzt die Springer unter Druck. Die optischen Reize in der Anfahrt können das Nervensystem überstrapazieren, wie eine Studie der Universität Innsbruck belegte. Der Springer kann in einen katabolen Zustand gelangen, in dem er die Belastung nicht mehr ausgleichen kann. Der deutsche Weltmeister Martin Schmitt erklärte im Jahr 2001 gegenüber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, dass er nach drei Flügen an einem Tag "abends todmüde ins Bett falle". Hinzu kommt ein zehn bis 20 Mal höherer Adrenalinspiegel sowie ein vermehrter Harndrang. "Diese Faktoren können bei den Athleten zu einer Gewichtsabnahme von bis zu zwei Kilo pro Tag führen kann", wie der Teamarzt des ÖSV Jürgen Barthofer erklärt.
Fehlende Trainingsmöglichkeiten
Diese psychischen Strapazen sind unter anderem auf fehlende Trainingsmöglichkeiten zurückzuführen. Zur Zeit gibt es nur fünf nutzbare Flugschanzen. Präpariert werden diese Monsterbakken aus Kostengründen nur für die raren Wettkämpfe. Den Athleten bleiben also nur wenige Testsprünge um sich auf die Grenzerfahrung einzustellen. Sie kennen die Windverhältnisse, Fall- und Landegeschwindigkeiten nur bedingt.
Und so kommt es gerade beim Skifliegen zu oft fatalen Stürzen. Schon leichte Windböen genügen um das Flugsystem zu stören, die Skier abschmieren und die Körper wie Steine auf den Vorbau knallen zu lassen. Genau das passierte am 18. März 1999 Waleri Kobelew in Planica. Der russische Skispringer überschlug sich mehrmals auf dem pickelharten Aufsprunghügel und musste im Auslauf reanimiert werden. Auch große Springer wie der Waldzeller Andreas Goldberger oder der Deutsche Jens Weißflog legten auf Flugschanzen erhebliche Bruchlandungen hin. Letzterer stürzte 1983 im tschechischen Harrachov so schwer, dass er jahrelang auf Großschanzen in Panik geriet.
"Wie ein Orgasmus"
Solche Traumata können auch zu Karriereenden führen. Nach seinem schwerwiegenden Sturz vor zwei Jahren am Kulm, schaffte es Olympiasieger Thomas Morgenstern nicht mehr, angstfrei zu springen. Der Instinkt zu Überleben war stärker, seine Absprünge nicht mehr aggressiv genug, um mit der Weltspitze mithalten zu können. Es folgte der Rücktritt.
Und am Mittwoch erwischte es beim "Einfliegen" des WM-Bakkens den 23-jährigen Kärntner Vorspringer Lukas Müller: Er kam nach der Landung bei rund 120 Metern wegen eines Materialproblems schwer zu Fall und war kurz bewusstlos. Müller wurde mit dem Helikopter ins Spital geflogen.
Trotz alledem lieben die Springer das Fliegen. "Geil wie im Weltall" beschrieb es Martin Schmitt einmal, "wie ein Orgasmus" sein Landsmann Christoph Duffner. Der österreichische Sprungästhet Anton Innauer sprach gar von einer Sucht. Noch Jahre nach seinem Rücktritt träumte er, mit Skiern abzuheben und durch die Lüfte zu schweben.
Der Traum vom Fliegen scheint stärker zu sein als jegliche Angst, vor der nur wenigsten sprechen.