Vikasund. Kazuyoshi Funaki, Takanobu Okabe, Masahiko Harada, Hiroya Saito. Bei den Olympischen Spielen 1998 in Nagano führte kein Weg an den japanischen Skispringern vorbei. Sie dominierten die Spiele nach Belieben. Heute – fast zwanzig Jahre später – sind japanische Namen beinahe gänzlich aus den vorderen Bereichen der Ranglisten verschwunden. Nur einer hält unbeirrbar die Fahne der einstigen Überflieger hoch – Noriaki Kasai.

Das wiederum ist erstaunlich. Denn 1998 war Kasai schon so etwas wie ein Routinier. Zehn Jahre früher war er im Weltcup erstmals aufgetaucht. Heute kann er sich stolz den erfahrensten aller Skispringer nennen. Er ist ihr König – und das völlig zu Recht. Die Sprungwelt sucht geschlossen eine Antwort auf die Frage, wie man in einer derart sensiblen Sportart, über Jahrzehnte in der absoluten Weltelite mitspringen kann. Nur Kasai selbst scheint das "Wie" egal zu sein. Er macht es einfach. Zuletzt egalisierte er am Kulm seinen eigenen japanischen Landesrekord mit 240,5 Metern. Mit einer Lockerheit, die schon fast an Frechheit grenzt, springt er Männern um die Ohren, die noch nicht geboren waren, als er schon Weltmeister war. Das war bereits 1992, und zwar in der Königsdisziplin Skifliegen.

Weltcup-Debüt 1988

Man muss sich die Zeitspanne vor Augen führen, in der Kasai Sprunglauf auf höchstem Niveau ausübt. Als der 17-Jährige 1988 zum ersten Mal im Weltcup über eine Großschanze sprang, war die Welt noch in zwei Lager geteilt. Michail Gorbatschow und Ronald Reagan begannen sich langsam anzunähern. In Österreich schlug sich Bundeskanzler Franz Vranitzky mit der unrühmlichen Vergangenheit des Landes herum. Bundespräsident Kurt Waldheim wurde aufgrund seiner Rolle im Nationalsozialismus auf die amerikanische "Watch List" für mutmaßliche Kriegsverbrecher gesetzt, Jörg Haider zur Galionsfigur der Deutschnationalen.

Die damaligen politischen Entscheidungsträger sind längst in der Pension oder tot – Kasai hüpft immer noch. Wie sich die politische Landschaft in all den Jahren veränderte, so veränderte sich auch der Sprungsport. Kein anderer Athlet hat so viel Regel- und Materialänderungen durchgemacht wie Kasai. In den späten 1980er-Jahren waren die Profile der Schanzen mit heute nicht vergleichbar. Im Grunde erlernte der Japaner eine komplett andere Sportart. Die ersten Sprünge absolvierte er noch im Parallelstil. Der Luftstand war höher, der Schanzentisch länger, die Sponsorengelder weniger.

Nur eines blieb gleich – Kasais unglaublicher Sprungstil. Wie kaum ein anderer beherrscht er die Kunst des Skisprungs in all ihrer Schönheit. Wie auf Schienen zieht er durch die Luft. Kurz nach dem Absprung legt er die Hände flach am Gesäß an, um windschlüpfriger zu sein. Danach – in der Fallphase – dreht er die Handflächen nach unten. Sein Kopf ist dabei auf einer Ebene mit den Skispitzen. Wie einen Fallschirm trägt es ihn über den Hang, die Skier zu einem symmetrisch perfekten V geformt. Andere Springer behaupten, nur anhand des Schattens zu erkennen, ob Kasai oder ein anderer über die Schanze geht.

Erfahrung schlägt Jugend

Überhaupt scheinen ihn seine Kollegen nahezu zu verehren. Peter Prevc, unangetasteter Weltcupführender, sagte 2014 gegenüber der Wochenzeitung "Die Zeit": "Er ist eine Inspiration für mich." Der Schweizer Simon Amman - mit seinen vier olympischen Goldmedaillen selbst schon Legende – wurde im November 2014 gemeinsam mit dem Japaner im finnischen Ruka punktegleich Sieger. "Das Bild der Siegerehrung wird einen Platz in meinem Wohnzimmer finden", meinte er damals strahlend in die Fernsehkameras.

Und sie fragen ihn um Rat, denn keiner kennt die Schanzen der Welt besser als er. Er weiß genau, wie er welche Schanze zu springen hat, wo sich Schläge in der Anlaufspur befinden, wann der Bewegungsablauf des Absprungs einzuleiten ist. Diese Erfahrung ist es auch, die der Japaner zu seinem Vorteil nutzt. So kann er es sich auch leisten, hie und da ein Training auszulassen, Ressourcen zu sparen, wenn die Saison an den Kräften nagt. An einem 43 Jahre alten Körper geht der Sprungsport gewiss nicht spurlos vorüber. Der enorme Druck beim Aufsprung belastet genauso wie das ewige Herumtingeln zwischen den Veranstaltungsorten. "Ich kann mir nicht vorstellen, mit diesem Alter noch so erfolgreich und fit zu sein", sagt etwa Michael Hayböck.

Ziel: Olympiagold

Doch Kasai sieht es anders. "Ich bin auch mit 49 noch nicht zu alt. Ich möchte Olympia-Gold", definiert er wie selbstverständlich sein nächstes Ziel. Denn bei Olympia hat es für den Japaner in all den Jahren nie geklappt. 1998 wurde er für den Bewerb auf der Großschanze nicht einmal nominiert, weil er sich just bei den Heimspielen im Formtief befand. Insgesamt nahm er an sieben Winterspielen teil, Silber von der Großschanze in Sotschi 2014 war seine größte Ausbeute.

Doch die Chance auf Gold lebt weiter. 2018 (Pyeongchang) und 2022 (Peking) wird ja wieder um olympsiches Edelmetall gesprungen. Sollte es da wieder nicht funktionieren, winkt vielleicht ein Olympia-Dacapo in der Heimat, wenn Sapporo denn Zuschlag für die Spiele 2026 erhält. Noch einmal mit Kasai – warum auch nicht? Schließlich ist der dann erst 53.