Dieser schiefe Turm in Italien ist ja lachhaft. In Deutschland steht einer, der ist höher, imposanter und vor allem schiefer. Neigt sich der in der Toskana gerade einmal um vier Grad zur Seite, tut es jener in Bayern um 51. Auch sonst haben die beiden Gebäude wenig gemein. Auf das eine rennen Touristen rauf, vom anderen springen Skispringer runter. Der Schiefe Turm von Pisa wurde vor 700 Jahren erbaut, der Anlaufturm der Heini-Klopfer-Skiflugschanze vor 43 Jahren.

Trotzdem nennen ihn die Einheimischen den "Schiefen Turm von Oberstdorf". Denn der Turm der Flugschanze steht frei auskargend da – also völlig ohne Stütze. Einzig am Schanzentisch ist die 139 Meter lange Spannbeton-Konstruktion im Boden verankert. Wie ein drohender Zeigefinger ragt sie weit über die Wipfel des bayrischen Fichtenwaldes.

Skisprungschanzen sind wahnwitzige Gebäude. Scheinbar teilnahmslos stehen sie in der Landschaft herum. Wie Fremdkörper erheben sie sich majestätisch an den Rändern von Städten. Der altehrwürdige Hollmenkollenbakken schaut in neuem, futuristischem Kleid auf Oslo herunter. Vor den Toren von Innsbruck fängt Zaha Hadids Bergiselschanze Blicke.

Form follows function

Würde man ihren Zweck nicht kennen, würde man wohl überdimensionierte Kunstwerke vermuten, Mahnmäler, Monumente zu Ehren irgendeiner Gottheit. Dabei sind Skisprungschanzen das genaue Gegenteil: höchst funktionale Konstruktionen.

Fragiler Anlaufturm, gewölbter Vorbau, langgezogener Auslauf. Die ästhetischen Formen einer Skisprungschanze folgen dem alleinigen Zweck, möglichst weite Sprünge zu ermöglichen. Form follows function. Es ist wie beim Skisprung selbst. Nur ein ästhetischer, formschöner Sprungstil lässt weite Sprünge zu. Nur eine ausgeklügelte Schanze mit den richtigen Proportionen, Radien und Verhältnissen bringt den Springer zum Schweben. Sie ist die Leinwand des Sprungkünstlers. Ohne sie wäre er nur ein plumper Skifahrer.

Natürlich folgen die Schanzenkonstruktionen auch architektonischen Moden. So schlängelt sich das Panorama-Restaurant der Bergiselschanze in Hadids typisch organischem Stil um die Spitze des Turms. Die Große Olympiaschanze in Garmisch-Partenkirchen erhielt ein avantgardistisches Antlitz aus glänzendem Stahl. Doch dies ist nicht mehr als Schnickschnack. Verzichtbare Ornamente eines rein funktionalen Bauwerks, dessen Grundform ästhetische Perfektion erreicht.

Drei Riesen, eine Zwergin

In der anstehenden Weltcupsaison bespringen die Herren 19, die Damen zehn verschiedene Schanzen. Darunter drei Flugschanzen: die modernisierte Heini-Klopfer-Skiflugschanze, den Vikersundbakken in Norwegen und die Letalnica bratov Gorišek in Slowenien. Sie sind Riesen. Mit einer Gesamthöhe von mehr als 200 Metern erlauben sie Flüge jenseits der 225 Meter-Marke. Dagegen ist die Bergiselschanze eine Zwergin. Sie ist die kleinste im Weltcup-Kalender. Ihr Anlaufturm ist 50 Meter hoch, um fünf Meter niedriger als dieser schiefe Turm in Italien. Schiefer ist sie trotzdem.