Gäbe es kein Coronavirus, würde ich mich schon sehr auf das Jüdische Filmfestival Wien freuen, das heuer von 7. bis 21. Oktober stattfindet. So blättere ich im Festivalprogramm und bedaure, was mir heuer an feinen Filmen entgeht. Gestürzt hätte ich mich vor allem auf die israelischen Filme, die man sonst kaum im Kino sieht. Und die große Leinwand ist halt doch die große Leinwand und das Streamen am Computer ist besser als nichts, aber eben nicht das ganze Erlebnis.

"Tear down the walls!" lautet das diesjährige Festivalmotto. "Wir verstehen unser vielgestaltiges Programm als Plädoyer für eine von geistigen Mauern befreite, humanistische Gesellschaft sowie als Mahnung gegen Ausgrenzung und menschenverachtende Ausgrenzung", schreibt dazu das Festivalteam Frédéric-Gérard Kaczek, Rita Jelinek und Doris Kittler. Dabei wird die Brücke von der Vergangenheit mit Filmen zur Schoah bis in die Gegenwart und der Auseinandersetzung mit Krieg und Flucht heute geschlagen.

Das Gestern wird etwa in "Determined: The Story of Holocaust Survivor Avraham Perlmutter" lebendig. Er konnte mit einem Kindertransport aus Wien gerettet werden. Der Dokumentarfilm "Hate among us" ist Antisemitismus heute in den USA auf der Spur, aber nicht nur. "Inwiefern geht Antisemitismus Hand in Hand mit Rassismus und Fremdenhass?", ist eine der Fragen, die dieser Film aufwirft. Und er zeigt auf: Juden, Muslime oder Fremde werden durch politische Propaganda mehr denn je zu Sündenböcken und Hassobjekten gemacht.

Innere Mauern

"Diese Politik der Spaltung führt jedoch auch dazu, innere Mauern aufzubauen", meint auch Claudia Prutscher, Vizepräsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde (IKG) Wien, in ihrem Vorwort zum diesjährigen Festivalprogramm. "Innere Mauern – optisch nicht sichtbar, trotzdem sind sie da."

Gerade Kulturprogramme wie das Jüdische Filmfestival sehe ich als wunderbare Möglichkeit, diese inneren Mauern zu Fall zu bringen. Im Film werden vermeintlich fremde Welten lebendig, greifbar und auch begreifbar – ob das nun die jüdisch-orthodoxe Gesellschaft ist, in die die Verfilmung des humorvollen Romans "Wolkenbruchs wunderliche Reise in die Arme einer Schickse" entführt oder aber eben Geschichten, die im heutigen Israel spielen wie die Gaunerkomödie "Mechila" ("Forgiveness") oder "Ahava Bi’Shlei’Kes" ("Love in Suspenders"), ein Film, der die Geschichte von Tami und Beno, beide verwitwet, erzählt, die einander begegnen und besser kennen lernen und damit ein Stück den Verlust ihrer Lebensmenschen überwinden, was Familie und Freunde nicht nur wohlwollend sehen. Ein anderer israelischer Film – "Douze Points" - ist wiederum in Paris verortet, hier geht es um die beiden Freunde Rasoul und Tarik. Der eine wird Sänger und outet sich als homosexuell, der andere wird Teil einer ISIS-Terrorzelle. Tarik hat Erfolg und möchte am Song Contest teilnehmen, Rasoul ist in die Planung eines Anschlags auf dieses Kulturevent involviert. Verpackt ist diese Geschichte, in der auch der Mossad eine Rolle spielt, in eine Komödie.

Filme wie diese nicht zu sehen, tut mir persönlich sehr leid. Aber es sind ja nicht alle so derart vorsichtig und meiden so konsequent geschlossene Räume, wie ich dies derzeit tue, und dazu ist wahrscheinlich auch gar kein Grund, denn das Festivalteam hat sich um ein umfassendes Covid-19-Sicherheitskonzept bemüht. Besetzt wird – im Schachbrettmuster – nur jeder zweite Sitz und der Mund-Nasen-Schutz muss bis zum Sitzplatz getragen werden. Die Pausen zwischen den Vorstellungen wurden auf 30 Minuten verlängert, sodass nach jedem Programmpunkt gut durchgelüftet werden kann. Es wird zudem gebeten, Tickets vorrangig online zu kaufen.

Warten auf die Post-Corona-Zeit

Grundsätzlich stellt sich ja die Frage: wie lange halten Kulturveranstalter im Allgemeinen und Kinos im Besonderen die derzeit Covid-bedingte angespannte Situation noch durch? Und wie wird sie sein, die Post-Corona-Welt, sollte es bis dahin kaum mehr Theater, Kulturräume und eben auch Kinos geben, weil sie sich wirtschaftlich krisenbedingt nicht mehr halten konnten? Es wäre eine traurige Welt. Und ich verstehe jede und jeden, der oder die nun sagt, Virus hin oder her, diese Stunden Kulturgenuss lasse ich mir nicht nehmen, ich trage Maske, ich halte Abstand, aber ich möchte wieder ein Stück Normalität.

Vergangenes Wochenende haben wir das jüdische Neujahr gefeiert, nun stehen wir kurz vor Jom Kippur, dem Versöhnungstag. Ich hoffe, kein Rabbiner legt mir das Folgende blasphemisch aus: aber ich würde mich gerne mit dem eben erst begonnenen Jahr 5781 versöhnen, wenn es uns vor dieser teils immer noch surreal anmutenden Situation erlöst. Wenn ich an den Herbst vor einem Jahr zurückdenke, da sind wir alle bedenkenlos in eine U-Bahn oder ein Flugzeug gestiegen, waren mit Freunden in Restaurants essen, haben Verwandte im Ausland besucht und sind, wenn uns danach war, in ein Konzert, ins Kino, eine Ausstellung gegangen.

Nun ist all das nur mit Maske möglich und immerhin erlaubt uns diese Maske wenigstens ein bisschen von all dem weiter zu tun, aber dennoch, über allem hängt eine Schwere und unbekümmert war einmal. Ich denke, ich werde diese Unbekümmertheit, die noch zu Beginn des Jahres 2020 eine selbstverständliche war, sehr zu schätzen wissen. Und ich hoffe, dass wir schon in wenigen Monaten – dann wenn eine Impfung oder ein Medikament gegen das neuartige Coronavirus gefunden ist - die Möglichkeit bekommen, unsere Wertschätzung zu zeigen: Indem wir Kultur konsumieren, indem wir ausgiebig Freunde treffen, indem wir ausgelassen und ohne Hintergedanken Feste feiern, indem wir uns vieles von dem vermeintlich Selbstverständlichen wieder zurückerobern.