Ich hatte heute zwei Termine in der Leopoldstadt. Beim ersten habe ich einen Bekannten getroffen und fragte, "na, wie machst du das heuer zu Sukkot?" und er antwortete, anstrengend seien die vergangenen Tage gewesen, denn dieses Jahr habe er seit langem wieder einmal eine Sukka auf seinem Balkon aufgebaut. Dieses Wochenende hat das Laubhüttenfest begonnen. Es ist einerseits ein Erntedankfest, andererseits erinnert man sich an den Auszug aus Ägypten. Die Sukka, die Laubhütte, ist nach oben offen und nur mit Zweigen bedeckt, dabei ist der Blick zum Himmel frei. Während des einwöchigen Festes nimmt man die Mahlzeiten in der Hütte ein.
Da nicht jeder über einen Balkon, eine Terrasse oder einen Garten verfügt, wo man im Herbst die Sukka aufstellen kann, gibt es Gemeinschaftslaubhütten. Eine solche Sukka gibt es im Stadttempel ebenso wie in vielen anderen Synagogen. Jedes Jahr stehen in Wien in der Tempelgasse auf dem großen Vorplatz des psychosozialen Zentrums ESRA auch zwei große solche Gemeinschaftssukkot: eine gehört zur benachbarten aschkenasischen orthodoxen Synagoge, eine gehört zum sefardischen Zentrum ein paar Häuser weiter. Doch als ich heute vorbeispazierte, war alles etwas anders als üblich zu dieser Zeit. Auf der Seite der Synagoge gibt es zwar auch heuer eine Sukka, sie ist aber recht klein und mit nur drei Tischen bestückt. Auf der Seite des sefardischen Zentrums steht gar nur eine Mini-Mini-Sukka, sie war am frühen Nachmittag leer.
"Zu riskant"
"Es ist heuer zu riskant wegen Corona", erklärte mir dazu Israel Abramov, der Vorstand des Vereins Bucharischer Juden (VBJ), als ich ihn kurz darauf anrief. Die kleine Sukka diene nur dazu, dass jeder kommen könne und den Segen sagen. Aber das gemeinschaftliche Essen, Singen, Beisammensein in der Laubhütte, das gebe es heuer nicht.
Die fehlende große Sukka in der Tempelgasse steht da (oder eben nicht da) wie eine große Leerstelle. Es fehlt etwas. Es fehlt aber auch jemand. Leider gab es in den vergangenen Wochen in der jüdischen Gemeinde ein paar Todesfälle zu beklagen, zuletzt starb ein noch junger sechsfacher Familienvater an Covid-19. Das ist schwer zu verdauen. Das ist auch nach Tagen noch schwer fassbar und sehr traurig.
So macht die fehlende Sukka dann aber eben auch wieder Sinn. Man kann nicht zur Tagesordnung übergehen. Man muss jedes Risiko vermeiden, damit keine weiteren Personen sich mit dem Virus infizieren.
Loslassen
Und so schwierig es auch ist: ich habe den Eindruck, nach einem halben Jahr mit dieser Pandemie ist der Moment gekommen, wo das Loslassen nach und nach besser gelingt. Wir alle haben noch keine Pandemie erlebt, jeder und jede wünscht sich Normalität und sehnt sich nach dem gewohnten Leben. Aber je mehr man daran festhält, desto stärker schlägt das Virus zu.
Der Schritt zurück bedeutet da nicht nur das von Experten angeratene Abstand halten. Der Schritt zurück ermöglicht auch ein besseres Einschätzen und Abwägen: Was ist wirklich wichtig? Und worauf verzichte ich besser? Was ist vernünftig? Wodurch kann ich andere und damit alle und am Ende auch mich am besten schützen? Welche Risiken gehe ich ein? Und welche Risiken vermeide ich besser?
Ich fand es in früheren Jahren schön, in den Laubhütten von Freunden zu Gast zu sein. Heuer ist das leider keine Option. Ja, nach oben hin sind die Sukkot offen, aber man sitzt doch, eben wenn sich hier nette Runden versammeln, sehr gedrängt und unterhält sich – hundertprozentig Corona-sicher ist das eben leider nicht.
Und damit ist es heuer wohl tatsächlich besser, so man über einen kleinen Freiraum wie zumindest einen Balkon verfügt, in der eigenen kleinen Hütte zu feiern. Damit ist aber auch Sukkot wie schon Pessach oder Rosch HaSchana für viele heuer ein ungewohnt ruhiges und ja für manche auch ein einsames Fest.
Zu jüdischen Festen gehört es dazu, in größerem Kreis und eben gemeinsam zu feiern. Der Seder zu Pessach im kleinsten Familienkreis hat sich heuer nicht so angefühlt, wie es eigentlich gehört. Diese Woche ist es genauso. Es sind traurige Feiertage. Nein, eigentlich ist es sogar noch eine Prise schlimmer. Während im Frühjahr zu Pessach das Alleinsein vieler das Hauptthema war, sind inzwischen viele Menschen erkrankt und von ein paaren musste sich die jüdische Gemeinde für immer verabschieden. Das ist ein großer Einschnitt. Und der wird wohl für immer Spuren hinterlassen.