Religion wird gemeinhin mit dem Glauben an Gott und dem Gebet assoziiert. Religion ist aber so viel mehr: sie ist Lebensweise und moralisches Wertesystem. Je nach Grad der Observanz strukturiert sie grob das Jahr oder detailliert den Alltag. Sie bietet Halt, aber auch Gemeinschaft und Zugehörigkeit. Sie ist gerade in Krisenzeiten für viele eine wichtige Stütze und hilft auch manchen Menschen, Leid besser zu ertragen.

All das sollte man im Hinterkopf haben, wenn man Religion als mittelalterlich, archaisch, überkommen und damit in der heutigen Zeit als überflüssig darstellt. All das sollte man im Hinterkopf haben, wenn heilige Bücher wie die Tora, die Bibel, der Koran als Märchensammlungen diskreditiert werden. Diskreditiert übrigens im doppelten Sinn: denn auch Märchen sind wichtige literarische Texte, die eine Funktion in der Gesellschaft, aber auch dem Aufwachsen des Einzelnen haben. Dieses klare Aufzeigen, was ist gut, was ist böse, schult Menschen zu versuchen, sich richtig zu verhalten.
Vergangene Woche fällte der Europäische Gerichtshof (EuGH) ein Urteil mit weitreichenden möglichen Folgen. Als in Belgien die Regionen Flandern und Wallonien das Schächten ohne vorherige Betäubung der Tiere verboten, zogen die dortige jüdische und muslimische Gemeinde vor den EuGH. Dieser hat nun entschieden, dass rituelle Schlachtungen nicht grundsätzlich verboten werden und damit die Religionsfreiheit gewahrt bleibe. Allerdings stehe es den EU-Staaten frei, eine Betäubung vor dem Schächtschnitt zu verlangen. Das wiederum würde aber dem koscheren Ritus nicht entsprechen. Bei der koscheren Schlachtung ist der Schächtschnitt Betäubung und Tötung zugleich, da das Tier sofort das Bewusstsein verliert.
Entsprechend scharf fielen die Reaktionen jüdischer Gemeinden und Organisationen aus. In einigen europäischen Staaten wie Schweden, Dänemark, Island, Norwegen und Slowenien ist das Schächten bereits verboten. Hier muss koscheres Fleisch importiert werden. Die Konferenz der Europäischen Rabbiner befürchtet daher nun durch das Urteil des EuGH einen "Dominoeffekt". Würden sich weitere Länder in diese Richtung entscheiden, erschwere das die Religionsausübung.
Religionsfreiheit in Frage gestellt
Pinchas Goldschmidt, Präsident der Europäischen Rabbinerkonferenz, meinte: "Europas Politiker beteuern immer wieder, den Wert und die Bedeutung der jüdischen Gemeinden für Europa, doch sie bieten keine Garantien für unsere Lebensweise. Europa muss sich selbst fragen, welche Werte es künftig vertreten will. Wenn Werte wie die Religionsfreiheit und Vielfalt ein integraler Bestandteil sein sollen, dann spiegelt das die derzeitige Rechtsauffassung und Rechtsprechung nicht wider und muss dringend überarbeitet werden." Ähnlich äußerte sich auch Moshe Kantor, Präsident des European Jewish Congress: "Das Recht, unseren Glauben und unsere Bräuche zu praktizieren, eines, das uns über viele Jahre hinweg zugesichert wurde, wird durch diese Entscheidung ernsthaft untergraben."
Ja, Religion ist eben mehr als der Glauben an Gott und das Gebet. Das Judentum bietet ein umfassendes System an Rechtsvorschriften, festgelegt in der Halacha, dem jüdischen Recht. Rabbiner sind denn auch, anders als in den christlichen Kirchen, weniger Seelsorger als vielmehr Rechtsgelehrte. Dass sie dadurch den Gemeindemitgliedern aber auch wichtige Stütze sind, indem sie sie bei Fragen, in Krisen, aber auch grundsätzlich im Alltag anleiten, wie der richtige Weg sein könnte, sich zu verhalten, wobei es da auch immer um ein Auslegen und Abwägen der Vorgaben geht, macht sie dennoch auch zu wichtigen Wegbegleitern.
Tierleid soll ja gerade vermieden werden
Die Halacha wiederum gibt nicht nur einfach Regeln vor, wie etwa, dass ein Schaf per Schächtschnitt geschlachtet zu werden hat. Im Mittelpunkt steht ein würdevoller Umgang mit dem Tier, das eben möglichst nicht leiden soll. Daher darf es in der koscheren Fleischproduktion keine langen Tiertransporte geben, daher darf es keine Massentierhaltung geben, denn die Tiere müssen bei der Schlachtung völlig gesund sein und dürfen keine Verletzungen aufweisen. Daher darf auch kein Tier im Beisein eines anderen Tieres geschlachtet werden. Und daher soll der Schächtschnitt gleichzeitig Betäubung und Tötung sein – die Schlachtung soll rasch und eben möglichst schmerzfrei erfolgen. All das wird allerdings in der Debatte um Tierleid und Tierwohl und Tierschutz gerne außer Acht gelassen.
All das zeigt aber auch, dass es bei religiösen Vorschriften nicht nur um das unreflektierte Fortführen von Bräuchen geht, sondern dahinter ein komplexes System an durchaus stimmigen Überlegungen steht. Die Regeln, nach denen ein Tier koscher geschlachtet wird, sind der Schlusspunkt eines Systems, das dafür sorgt, dass Tiere ein gutes Leben haben und dass Menschen zu schätzen wissen, wenn sie deren Fleisch essen. Fleisch wird damit auch zu einem kostbaren Gut.
Viele dieser Gedanken sind in der modernen Fleischproduktion völlig verloren gegangen. Produzenten schauen auf möglichst viel Ertrag, Konsumenten auf einen günstigen Preis. Das führt zu Massentierhaltung und zu industrialisierten Schlachtungen. Dem einzelnen Tier kommt dabei häufig viel weniger Wertschätzung zu als eben in der koscheren Schlachtung.
Ja, natürlich kann man sagen: es muss ja niemand Fleisch essen. Und ja, man kann auch koscher leben, ohne Fleisch zu essen. Allerdings stellt sich die Frage: wo hört diese Entwicklung auf? Wann wird dann die Beschneidung untersagt, wann weitere Riten und Bräuche? Lässt man das eine zu, ist es bis zum nächsten Schritt nicht weit und irgendwann ist freie Religionsausübung dann wirklich nicht mehr möglich. Bini Guttmann, der Präsident der European Jewish Students (EUJS) meinte angesichts des aktuellen EUGH-Urteils, "das koschere Schächten ist ein zentraler Bestandteil des Judentums, ein Verbot dieser Praxis ist ein klares Signal, dass die Grundrechte von Juden in der EU beschnitten werden können." Und das ist eben der Punkt. Welche Einschränkungen würden als nächste angedacht, in Gesetze gegossen und schließlich ausjudiziert?