Wir und die anderen ist ein Muster, das sich seit Jahren durch die Gesellschaft zieht. Ob es jemals anders war? Wahrscheinlich nicht. Ob man es besser machen kann? Immer. Manch einer meint ja auch, dass nicht nur Rechtspopulismus, sondern auch Identitätspolitik zu einem Auseinanderdividieren der Gesellschaft führt. Letzteres finde ich nicht. Wer weiß, wer er ist und dazu steht, wird selbstbewusster, Stichwort: Empowerment. In einer gut funktionierenden Gesellschaft muss ja auch nicht jeder gleich sein. Es müssen nur viele Individuen gut miteinander auskommen. Sie tun das aber vielleicht auch, wenn sie mehr über den anderen wissen. Es gibt aber wiederum nur der etwas von sich preis, der in seiner Identität so gefestigt ist, dass er sich immer als das präsentiert, was er ist, und kein Schattenleben hinter verschlossenen Türen führt.

In Deutschland möchte das Projekt www.1700jahre.de 2021 sehr niederschwellig viele Menschen an der Hand nehmen und ihnen zeigen, wie Juden leben, wie sie ihre Feste feiern, was es an jüdischer Kultur und Traditionen gibt. Podcasts, Konzerte, Podiumsdiskussionen, eine Ausstellung und eine Tagung sind geplant. Ein "Bus der Begegnungen" geht auf Tour, die Puppenshow Bubales gestaltet in Videoclips eine Fahrt durchs Jahr mit dem "Schalömchen"-Trolleybus, der von einem Rabbiner gelenkt wird, der alle Feiertage erklärt. Den Anfang macht der jede Woche begangene Schabbat. "Judentum zum Anfassen" soll im Herbst die Aktion "Sukkot XXL" bieten: dabei können Gemeinden Laubhütten im Baukastensystem bestellen, die dann an einem öffentlichen Ort aufgestellt und von der örtlichen jüdischen Gemeinde betreut werden. In Baden-Württemberg wird eine Volkshochschule unter dem Titel "Meet a Jew: Mit uns reden, statt über uns!" Begegnungen zwischen jüdischen und nichtjüdischen Menschen organisieren.

Die Online-Ausstellung JEWERSITY von Jan Feldmann (zu sehen auf www.1700jahre.de) porträtiert Juden und Jüdinnen in 15-Sekunden-Clips und zeigt dabei die Vielfältigkeit der Zugänge zum Judentum auf. Denn auch innerhalb der jüdischen Community gibt es keine Homogenität. Die Organisatoren des Jubiläumsjahres beschreiben es so: "Jüdisches Leben in Deutschland ist genauso vielfältig wie das Leben der Mehrheitsgesellschaft. Es gibt weiß positionierte Jüdinnen*Juden genauso wie Jews of Color; es gibt religiös praktizierende und bekennende Jüdinnen*Juden quer durch das Spektrum von orthodox bis liberal, aber auch solche, die sich als Atheist*innen bezeichnen; es gibt Heterosexuelle und LGBTQ; es gibt Jüdinnen*Juden mit und ohne Behinderung; es gibt Arme und Reiche; es gibt Konservative und Liberale; es gibt Heavymetal-, Pop- und Schlager-Fans. Es ist Zeit, mit Stereotypen aufzuräumen und sie gegen Bilder der Realität auszutauschen. Wir helfen gerne dabei!"

Judentum nicht nur mit der Schoa verknüpfen

Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, bedauert, dass viele Menschen das Judentum vor allem mit der Schoa assoziieren. "Damit nehmen sie ausgerechnet jene zwölf Jahre in den Blick, in denen kein normales jüdisches Leben mehr stattfinden konnte und die europäischen Juden fast vollkommen ausgerottet wurden." Das Wissen über und die Erinnerung an die Schoa seien zwar immens wichtig. "Doch sie müssen verknüpft werden mit Kenntnissen über die jüdische Geschichte seit dem Jahr 321, über jüdische Religion und Kultur und die jüdische Gegenwart. Nur dann lässt sich auch ermessen, was mit der Schoa zerstört wurde und woran wir heute noch immer nicht vollständig anknüpfen konnten", sagt Schuster.

Das Jahr 321 ist übrigens jenes, auf das sich das Programm von "1.700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland" bezieht. Denn ja, Juden sind nicht erst irgendwann im 18. oder 19. Jahrhundert nach Europa zugewandert (womit sie aber auch schon seit Jahrhunderten hier leben würden). Für Deutschland dokumentiert ein römisches Dekret aus dem Jahr 321, dass es zum damaligen Zeitpunkt Juden in Köln gab. Man kann also davon ausgehen, dass auch zuvor schon Jüdinnen und Juden im Gebiet des heutigen Deutschland lebten, aber für dieses Jahr gibt es eben auch einen schriftlichen Beleg.

MiQua. LVR – Jüdisches Museum im Archäologischen Quartier Köln hat zu diesem Dekret im heurigen Jubiläumsjahr eine Publikation herausgebracht, in der dargelegt wird, was man aus diesem gesichert herauslesen kann. Konkret handelt es sich um ein Dekret von Kaiser Konstantin, mit dem er Provinzstädten erlaubte, Juden in den Stadtrat zu berufen. Dem vorausgegangen war eine diesbezügliche Bitte der Stadt Köln, die damals Colonia Claudia Ara Agrippinensium hieß und Hauptstadt der niedergermanischen Provinz war. Kaiser Konstantin stimmte dem zu und er formulierte einen Erlass, der dann Gültigkeit im gesamten Imperium Romanum hatte (und nicht nur in Köln).

Erhalten ist dieses Dekret aus dem Jahr 321 als Abschrift in der Gesetzessammlung Codex Theodosianus. Für diese wurden im Auftrag des oströmischen Kaisers Theodosius II. (408-450) zwischen 429 und 437 alle römischen Gesetze und kaiserlichen Konstitutionen, die seit dem Jahr 312 von Konstantin dem Großen und den folgenden römischen Kaisern erlassen wurden, in lateinischer Sprache und in abgekürzter Form gesammelt. Seit dem 5. Jahrhundert wurde dieser Codex immer wieder abgeschrieben und damit vervielfältigt. Der Codex wurde ab dem Jahr 439 für das gesamte römische Reich rechtsverbindlich – obwohl es da ja bereits die Trennung in ein west- und oströmisches Reich gab. Eine der noch fragmentarisch erhaltenen Abschriften befindet sich in der Bibliothek des Vatikan. In dieser ist auch noch die Passage zu Juden in Stadträten enthalten.

Darin heißt es: "Durch reichsweit gültiges Gesetz erlauben wir allen Stadträten, dass Juden in den Stadtrat berufen werden. Damit ihnen (den Juden) selbst aber etwas an Trost verbleibe für die bisherige Regelung, so gestatten wir, dass je zwei oder drei aufgrund dauernder Privilegierung mit keinen (solchen) Berufungen belastet werden."

Welche Schlüsse man aus diesem Text ziehen kann, fasst Sebastian Ristow, wissenschaftlicher Referent im MiQua so zusammen: Da die Anfrage zu dem Gesetzesinhalt aus Köln kam, kann man davon ausgehen, dass es in Köln Anfang der 320er Jahre Juden gab. Zumindest einer von ihnen sei vermögend genug gewesen, sodass das Interesse bestand, ihn für den Stadtrat zu bestimmen. Die Arbeit im Stadtrat war nämlich ehrenamtlich, man musste daher über genügend eigene Mittel verfügen. Das Dekret lege aber auch nahe, "dass es mehr oder weniger in jeder bedeutenden Stadt des spätantiken römischen Reiches auch Menschen jüdischen Glaubens gegeben hat. Somit beschreibt das Gesetz für Köln eher nicht die Besonderheit, sondern die Norm."

Verfolgung und Einschränkungen quer durch die Jahrhunderte

Diese 1.700 Jahre jüdischer Geschichte in Deutschland sind geprägt von Phasen blühenden jüdischen Lebens und markanten Einschnitten. Die NS-Zeit war dabei mörderischer Tiefpunkt. Es gab aber durch die Jahrhunderte immer wieder unheilvolle Zeiten. Der Beginn der Kreuzzüge ab 1.096 war eine solche. Fanatisierte Kreuzfahrer ermordeten damals Juden oder zwangen sie, sich taufen zu lassen. Es wurde geplündert und zerstört. Der wirtschaftliche Aufstieg von Juden in den Städten führte in den folgenden Jahrhunderten zu immer mehr Anfeindungen durch christliche Nachbarn, wie Nils Sandrisser in der "Jüdischen Allgemeinen" anlässlich des Jubiläumsjahres nachzeichnet. Verleumdungen über angeblichen Hostienfrevel oder Ritualmorde machten ab dem 13. Jahrhundert die Runde, immer wieder kam es zu Pogromen. "Richtig schlimm wurde die Gewalt mit dem Ausbruch der Pest ab 1347, Juden wurden zu Sündenböcken gestempelt. Rund 300 der knapp 360 jüdischen Gemeinden in Deutschland erloschen." Martin Luther und die Reformation fachten den Antisemitismus im 16. Jahrhundert erneut an. "Judenordnungen" wurden erlassen und schränkten das Leben von Juden ein. Erst 1871 wurden in Deutschland Juden überall zu gleichberechtigten Bürgern. Der Antisemitismus stieg aber weiter. "Deutschlands Wirtschaft industrialisierte sich schnell, das produzierte viele Verlierer unter Bauern und Arbeitern. Auf der Suche nach Schuldigen kam man schnell auf die Juden", so Sandrisser.

Dieses Muster zieht sich durch die Jahrhunderte und ist bis heute sichtbar. Auch in der aktuellen Corona-Krise finden sich krude antisemitische Verschwörungstheorien. Im Unterschied zu vorangegangenen Jahrhunderten münden sie aber in Deutschland – und auch in Österreich – nicht mehr in entsprechender Regierungspolitik oder gar Gesetzen. Der unschöne Geist schwebt allerdings leider immer noch durch so manchen Kopf, und so gilt es dagegen zu halten und ja, zu zeigen, was das Judentum ist, was es ausmacht.

Ich finde ja zwar persönlich ein Dialogangebot "Meet a Jew" zu benennen, etwas reißerisch und sofort beschleicht mich dieses Zoogefühl und es kommen Assoziationen zu diesen unwürdigen "Völkerschauen" im 19. Jahrhundert und auch noch 20. Jahrhundert: Sie haben noch nie einen Juden gesehen? Bitte kommen sie und schauen sie sich einen an! Aber wenn man den Titel beiseite lässt, ist es natürlich eine feine Sache, Begegnungen und Gespräche auf Augenhöhe zu ermöglichen. Rund 95.000 Jüdinnen und Juden leben heute in Deutschland. In einem Land mit einer Gesamtbevölkerung von 83 Millionen Menschen ist das eine sehr kleine Minderheit. Da ist es dann tatsächlich so, dass die Mehrheit der Menschen noch nie einen Juden oder eine Jüdin persönlich kennengelernt haben. Und Dialog hilft immer immer, Vorurteile zu entkräfte. Was und wen ich kenne, vor dem habe ich weniger Angst. Angst, die dann von Verschwörungsschwurblern auch nicht mehr so geschürt werden kann, Hetze fällt im besten Fall also nicht mehr auf so fruchtbaren Boden. Dass es diese Hetze nach 1.700 Jahren immer noch gibt, ist allerdings mehr als traurig.