Es ist eine blutige Begebenheit, die sich jüngst zum 600. Mal jährte. Auf einer Gedenktafel ist dazu in der Kegelgasse 40 in Wien-Landstraße zu lesen: "Am 12. März 1421 wurden auf der Gänseweide, heute Weißgerberlände, etwa 200 Juden verbrannt. Ausgelöst wurde diese Judenverfolgung vom österreichischen Herzog Albrecht V. wegen einer angeblichen Hostienschändung in Enns und von der Theologischen Fakultät Wien, die die Juden der Zusammenarbeit mit den Hussiten verdächtigte. Ein damals neu errichtetes Gebäude der Theologischen Fakultät in Wien wurde aus den Steinen der zerstörten Synagoge gebaut."
Zum 600. Jahrestag wurde heuer eine Gedenkzeremonie in den Überresten der mittelalterlichen Synagoge am Judenplatz abgehalten. Anlässlich der Berichterstattung darüber fragte mich meine Tochter ob der Tatsache, dass da tatsächlich einst in Wien Juden und Jüdinnen auf dem Scheiterhaufen ermordet wurden, doch recht schockiert: Gebe es in so einem Fall aber nicht die Möglichkeit, sich taufen zu lassen, um dem Tod zu entgehen? Immerhin habe sie aus dem Religionsunterricht im Kopf, dass der Schutz des Lebens immer Vorrang habe.
Da kommen einem dann sofort die Geschichten von Juden in Spanien und Portugal in den Kopf, die genau das taten: sie ließen sich taufen und praktizierten das Judentum nur im Geheimen weiter. Manchmal allerdings nicht geheim genug: die Inquisition forschte immer wieder Juden und Jüdinnen aus, die nicht wirklich von ihrem Glauben abgelassen hatten.
Sein Leben retten
Dennoch: hatten jene etwas mehr als 200 Männer und Frauen vor 600 Jahren in Wien tatsächlich keine Möglichkeit, dem Tod zu entgehen? Ich habe Gemeinderabbiner Schlomo Hofmeister gefragt, wann man laut Halacha, dem jüdischen Recht, den Tod auf sich nehmen muss und wann nicht. Grundsätzlich gilt, dass jeder alles dazu tun muss, seine Gesundheit zu pflegen und tödliche Gefahren zu vermeiden. "Ich bin sogar verpflichtet, mein Leben zu retten."
Es gebe aber drei Sünden, die man nicht begehen dürfe: jemand anders zu töten, um dadurch den eigenen Tod zu vermeiden (etwa wenn einem jemand die Pistole an den Kopf hält und einem befiehlt, jemand dritten zu töten, um dafür das eigene Leben zu retten). Einen verbotenen Sexualakt begehen, weil einem sonst der Tod angedroht wird (beispielsweise eine Aufforderung, eine Frau zu vergewaltigen). Und keinen Götzendienst zu begehen, zu dem man mit einer sonstigen Todesandrohung gezwungen wird.
"Ich darf keinen Götzen huldigen – das heißt aber nicht, dass ich mich nicht, um mein Leben zu retten, nicht taufen lassen darf", stellt der Rabbiner dazu klar. Allerdings: "Ich darf die Taufe annehmen, um mein Leben zu retten. Aber wenn ich es nicht tue, habe ich mich nicht des Selbstmordes schuldig gemacht." Und das scheint im Rückblick auf die Wiener Gesera 1420/21 der springende Punkt gewesen zu sein. Menschen hätten damals mitbekommen, dass die Möglichkeit des reinen Lippenbekenntnisses nicht gegeben war. "Man stand weiter, und das oft über Generationen, unter dem Generalverdacht, noch jüdisch zu sein. Und man blieb unter Dauerbespitzelung der Kirche." Wurde aufgedeckt, dass eine Familie etwa weiterhin die Schabbeskerzen zündete, auch dann drohte der Scheiterhaufen. "Es kann also sein, dass sich die Menschen damals dachten, wenn der Scheiterhaufen ohnehin unser Schicksal ist, dann ist es so. Man muss das auch aus der Zeit heraus sehen."
Leben im Mittelalter
Stichwort Zeit: Wie es sich im Mittelalter als Jude, Jüdin in Wien lebte, darüber erzählt die eben eröffnete neue Dauerausstellung "Unser Mittelalter!" des Jüdischen Museums Wien am Standort Judenplatz. Hier befinden sich, unter dem Schoamahnmal von Rachel Whiteread die Überreste der mittelalterlichen Synagoge, die – siehe eingangs – nach der Vertreibung und Ermordung der Wiener Juden 1420/21 (Wiener Gesera) abgerissen und mit deren Steinen teilweise die Katholisch-Theologische Fakultät der Universität Wien errichtet wurde. Bevor man allerdings mit ein bisschen Gänsehautfeeling inmitten der alten Grundmauern steht, dann rund um die Überreste der Bima geht und sieht, wo hier einst die Männer saßen und wo die Frauen, erfährt man viele interessante Details über eine Zeit, die man heute vor allem als dunkel und düster im Kopf hat. Aber was wissen wir heute sonst über das Leben damals?
Im Rahmen meines Germanistik-Studiums fand ich die Mittelalter-Vorlesungen und –Seminare besonders spannend. Sagt Ihnen Neidhart von Reuental etwas? Szenen aus seinen Liedern wurden nicht unweit vom Judenplatz, in einem Haus auf der Tuchlauben 19, in einem Tanzsaal 1407 an die Wände gemalt. Die Fresken, die 2003 restauriert wurden, können besichtigt werden. Die Darstellungen, aber auch der Tanzsaal an sich, den sich der Tuchhändler Michel Menschein da erbauen ließ, zeichnen ein ganz anderes Bild des Mittelalters, eines, in dem auch Spaß und Freude ihren Platz hatten.
Auch in der Ausstellung im Jüdischen Museum begegnen einem viele kleine Details, die über frohe Momente im Alltag berichten. Da wurden bei den archäologischen Grabungen am Judenplatz – die Grundmauern der mittelalterlichen Synagoge wurden ja erst in den 1990er-Jahren gefunden – zum Beispiel Würfel und Spielsteine an die Oberfläche befördert. Das Würfelspiel war zwar offiziell verboten, wurde aber offenbar dennoch praktiziert, und zwar von Juden und Christen. Aber auch Münzen aus Blei wurden ausgegraben, nur auf einer Seite mit Motiven wie einem Adler, Blumen, einem Hirsch, einem Hund und einem Königspaar gestaltet. Sie dienten aber nicht als Zahlungsmittel, sondern dabei schien es sich ebenfalls um Spielsteine zu handeln – und man erfährt, dass es schon im Mittelalter Spiele wie Backgammon, Dame oder Mühle gab. Sie könnten aber auch als Spielgeld zum Einsatz gekommen sein.
Grabsteine als Trophäen
Dokumentiert wird in der Schau aber auch das einerseits gute Zusammenleben zwischen Christen und Juden über einen längeren Zeitraum in Wien. Und andererseits dann eben doch auch die Kontinutät des Judenhasses. Hier schlägt die Ausstellung auch die Brücke in die Gegenwart, in dem sie antisemitische Narrative zum Thema macht, die sich teils bis heute gehalten haben. Besonders bitter macht sich da die lange zurückliegende Tradition aus, jüdische Grabsteine als Trophäen zu missbrauchen und in andere Bauwerke zu integrieren. Wenn sie dann an Kirchen oder anderen Gebäude bewusst sichtbar angebracht und damit zur Schau gestellt wurden, sollte der Triumph des Christentums über das Judentum zum Ausdruck gebracht werden. So wurde beispielsweise ein Grabstein aus dem 14. Jahrhundert in die Außenmauer des Karmeliterklosters Maria Schnee in Graz eingemauert.
Grabsteine wurden aber auch zu Alltagsgegenständen umgearbeitet, auch das zeigte die Verachtung gegenüber Juden und Jüdinnen. So gibt es einen Fund in Prögriach bei Villach, wo ein Grabstein zu seinem Schleifstein umgearbeitet wurde. Und besondere Niedertracht zeigt dieses Beispiel: In Regensburg in Deutschland fand man im Keller des Alten Rathauses ein jüdischer Grabstein, der im Mittelalter zum Teil einer Latrinenplatte umfunktioniert wurde. Die hebräische Inschrift zeigte dabei nach oben.
Spuren des Judenhasses werden auch sichtbar, wenn man das Museum wieder verlässt und über den Judenplatz schlendert. Natürlich ist da einerseits das unübersehbare Holocaust-Mahnmal. Aber da gibt es am Judenplatz Nummer zwei, am Jordan-Haus, auch diese Inschrift in lateinischer Sprache: "Flumine Jordani terguntur labe malisque corpora cum cedit, quod latet omne nefas. Sic flamma assurgens totam furibunda per urbem 1421 Hebraeum purgat crimina saeva canum. Deucalioneis mundus purgatur ab undis Sicque iterum poenas igne furiente luit."
Nun, selbst wer Latein in der Schule erlernte, tut sich wohl ad hoc ein bisschen schwer mit dem Übersetzen. Noch dazu ist die Inschrift recht hoch am Gebäude platziert, was das Lesen erschwert. Hier also die Übersetzung: "Durch die Fluten des Jordan wurden die Leiber von Schmutz und Übel gereinigt. Alles weicht, was verborgen ist und sündhaft. So erhob sich 1421 die Flamme des Hasses, wütete durch die ganze Stadt und sühnte die furchtbaren Verbrechen der Hebräerhunde. Wie damals die Welt durch die Sintflut gereinigt wurde, so sind durch das Wüten des Feuers alle Strafen verbüßt."