Seit mehr als einem Jahr begleitet uns nun schon die Coronapandemie und sie hat unser aller Alltag massiv verändert. Erst wegen Covid-19 lernte ich zum Beispiel einen Straßenzug kennen, der zehn Gehminuten von meiner Wohnung entfernt ist und den ich dennoch bisher nie genutzt habe. Warum? Ich bin gerne mit öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs und habe vor Jahren beschlossen, dass ich mich nie wieder hinter das Steuer eines Autos setzen werden. Dem bin ich zwar treu geblieben – Covid-bedingt haben wir nun als Familie aber wieder ein Auto. Im Rückblick stellte sich das als durchaus vernünftig heraus: Masken, deren Schutzwirkung heute klar ist, waren in den ersten Wochen der Pandemie noch nicht im Einsatz. Stattdessen haben wir unsere Hände in Desinfektionsmittel nahezu ertränkt – die Viren müssen sich sehr amüsiert haben.

Weniger amüsant ist das, was mir nun mindestens einmal die Woche, manchmal öfter, begegnet, wenn ich am Beifahrersitz durch die Angyalföldstraße in Wien-Floridsdorf fahre. Sie verbindet die Donaufelder mit der Leopoldauer Straße und dient streckenweise ausschließlich dem motorisierten Verkehr. Lärmschutzwände versuchen links und rechts der Fahrbahnen die Einfamilienhaussiedlungen akustisch etwas von dem Straßenlärm abzuschirmen. Hinter diesen Barrieren gibt es auch Fuß- und Radwege. Nun gewinnen Lärmschutzwände allgemein nicht unbedingt Designpreise, doch diese hier stechen durch kraftvolle Grafitti ins Auge. Auf mehrere Paneele haben rivalisierende Fußballfans klare Botschaften hinterlassen. Austria-Anhänger setzten ihrem FAK ein Denkmal, Gegner übersprayten das A mit einem Davidstern.

Jedes Mal, wenn ich also seit mehr als einem Jahr die Angyalföldstraße durchquere, denke ich mir: fällt das auch jemand anderem auf? Wird das vielleicht jemand der Bezirks- oder Stadtverwaltung melden? Werden die prominent sichtbaren Sternbeschmierungen eines Tages nicht mehr zu sehen sein?
Leider Fehlanzeige. Vergangenes Wochenende bin ich also hinspaziert zu dieser Straße mit dem Zungenbrechernamen – sie ist benannt nach Angyalföld, dem Schwesternbezirk von Floridsdorf in Budapest – und habe die Graffiti fotografisch dokumentiert. Und dann zu Wochenbeginn beim Bezirksvorsteher von Floridsdorf, Georg Papai nachgefragt, was er zu diesen antisemitischen Beschmierungen im öffentlichen Raum sage.
Der SPÖ-Politiker reagierte prompt: da es sich um eine Hauptstraße handle, liege die Verantwortung nicht im Bezirk, sondern bei der Stadt Wien. Er habe aber umgehend die zuständige Magistratsabteilung informiert und diese habe eine baldige Entfernung der Grafitti zugesagt. In solchen Fällen, das muss ich wirklich festhalten, wird die Stadt Wien immer sofort aktiv. Die Frage, die sich allerdings einmal mehr stellt: warum scheint das sonst niemanden zu stören?
Er bedanke sich für das Aufmerksam-Machen, betonte Papai in unserem kurzen Telefonat. Er meinte dabei aber auch: "Auch für Menschen, die klar antifaschistisch sind, ist trotzdem nicht gleich erkennbar, dass es sich hier um Antisemitismus handelt."
Es kommt auf den Kontext an
Dazu ist zu sagen: der Davidstern ist natürlich ein positives Symbol. Aber es kommt auf den Kontext an. Wird er, wie bei diesen Grafitti, hingeschmiert, um einen Gegner herabzuwürdigen, dann wird er zum diskriminierenden Judenstern. Und ja, dann ist das antisemitisch gemeint.
Öffentlich ausgetragene Rivalitäten dieser Art haben in dem Viertel leider seit Jahren Tradition. Vor fünf Jahren, im Sommer 2016, fiel mir ein besonders drastisches Beispiel auf: auf einer Hauswand in der Donaufelder Straße fand sich ein mehrschichtiges Graffito, das sowohl den FAK-Schriftzug, den Davidstern, darüber hinaus auch noch die Zahl 88 und den Schriftzug "Hasen jagen" enthielt. Damals konnte ich eruieren, dass hier Anhänger des FK Austria Wien und des SK Rapid Wien am Werk waren. Die antisemitische Ebene steuerten Anhänger des Fanvereins Ultras Rapid bei.
Wie mir Szenekundige damals erklärten: die Austria als "Judenverein" zu beschimpfen hat bei solchen Fanauseinandersetzungen seit Generationen Tradition. Zurück geht dieses Stereotyp der Fanrivalität auf die Zwischenkriegszeit: damals galt Rapid als Arbeiterclub und die Austria als Judenclub. Jüdische Funktionäre gab es zwar da wie dort, dennoch: so war die Wahrnehmung.
Der Mythos verfestigte sich nach der NS-Zeit, als der frühere Austria-Präsident Emanuel Michael Schwarz aus Frankreich, wo der Mediziner und Sportarzt versteckt überlebt hatte, nach Wien zurückkehrte und bis 1955 den Violetten vorstand. Auch spätere Funkionäre waren jüdisch: Leopold Böhm, der die Textilkette Schöps betrieb, war in den 1970er Präsident des Klubs. Und der Auschwitz-Überlebende Norbert Lopper gründete 1953 den ersten Anhängerclub der Austria.
"Die Austria als Judenschweine zu beschimpfen, war in der jugendlichen Fanszene zum Beispiel in den Siebzigern und Achtzigern ein gängiger Chant", erzählte mir der Politikwissenschafter und Co-Herausgeber des 2014 erschienenen Bandes "Fußball unterm Hakenkreuz in der Ostmark", Georg Spitaler, im Zug der Recherchen zu dem Graffito in der Donaufelder Straße. Den Begriff "Judenschweine" höre man aber heute nicht mehr bei den Fangesängen im Stadion und lese ihn auch nicht mehr auf Transparenten in der Fankurve, betonte er.
Bleibt zu sagen: Es wäre schön, würde sich diese Spielart des Antisemitismus auch nicht mehr im Wiener Straßenbild wiederfinden. Dazu kann einerseits Sensibilisierungsarbeit der Vereine bei ihren Fans beitragen. Da braucht es aber auch noch mehr allgemeines Bewusstsein, was im öffentlichen Raum akzeptabel ist und was nicht und was daher rasch entfernt werden sollte und was als Ausdruck einer urbanen Subkultur auch einmal stehen gelassen werden kann.