Ein luftig-leichter August liegt hinter mir. Sommerfrische in Österreich und Italien sorgte für Tapetenwechsel und bot auch Zeit und Muße für Lektüre: Natasha Solomons entführte mich mit "Das Goldene Palais" ins Wien, Paris, London zu Beginn des 20. Jahrhunderts – eine wunderbare Familiensaga, welche die Wirren des Ersten Weltkriegs seziert. Bereits massiv spürbar: der Antisemitismus.

Die Nachrichtenlage stimmt nicht optimistisch. So bleibt das Hoffen, dass Äpfel und Honig ihren Zweck erfüllen und für ein besseres Jahr 5782 sorgen. Schana tova - gutes neues Jahr!
- © Alexia WeissYasmina Reza wiederum porträtiert in "Adam Haberberg" einen gescheiterten jüdischen Schriftsteller, dessen Ehe am Ende und dessen Gesundheit schwer angeschlagen ist. Die erzählte Geschichte spannt sich lediglich über einen Tag – wer Tristesse mag, ist hier gut bedient. Interessant und nachdenklich stimmend, ja – erheiternd, aufmunternd allerdings nicht.
Und dann war da noch Arnon Grünberg, mit seinem sehr eigenartigen Humor. Wer einmal etwas ganz anderes, ziemlich Schräges lesen möchte: "Besetzte Gebiete" wäre da eine Option. Ein niederländischer Psychiater verliert seine Zulassung, nachdem er eine Patientin, sagen wir, ziemlich experimentell behandelt hat, und zieht darauf mit seinem schwerkranken Vater in eine orthodoxe Siedlung ins Westjordanland – ist allerdings Atheist. Ja, das ergibt komische Momente, aber auch solche, die einen fragen lassen: wie kommt man auf die Idee, sich das auszudenken? Wer es skurril mag, ist hier gut bedient. Anflüge von Tristesse und Verzweiflung allerdings auch hier.
Lektüre anderer Art, nämlich die der aktuellen Berichterstattung, zeigte das reale Leben und ein Drama, das sich vor unser aller Augen zutrug: die Machtübernahme der Taliban in Afghanistan. Und ja, kurz beschlich mich da schon ein schlechtes Gewissen – wie kann man sich freuen, ein paar wunderbare Wochen zu verbringen, wenn es anderswo um Leben und Tod geht? Zynischerweise muss man sagen: irgendwo auf der Welt geht es immer um Leben und Tod. Aber dennoch.
Vielleicht gingen mir die Berichte auch deshalb so nahe, da ich mich im Rahmen der Initiative "Shalom Alaikum" seit 2015 um eine afghanische Familie kümmere. Ich kenne all die Schilderungen der Lebensrealität dort, aber das, was nun geschah, ist die ultimative Katastrophe. Wie wird es nun Frauen gehen, Mädchen gehen, all jenen, die in den vergangenen Jahren die NATO-Truppen unterstützten, die an den Universitäten studierten, die sich bemühten, in Afghanistan demokratische Verhältnisse aufzustellen?
"Ich empfinde es als meine Pflicht"
Als "Shalom Alaikum" von jüdischen Frauen angesichts der Fluchtbewegungen von 2015 gegründet wurde, ging es auch ein Stück weit darum, zu zeigen: wir leben heute, weil es damals Menschen gab, die unseren Vorfahren halfen, zu flüchten, zu überleben. Daran erinnerte mich nun diese Aussage (veröffentlicht vom Portal hamodia.com) des US-amerikanischen Rabbiners Moshe Margaretten, der mithalf, vier afghanische Kinder und Jugendliche in die USA zu evakuieren: "Ich empfinde es als meine Pflicht, vor allem als Jude. Unsere Vorfahren befanden sich so viele Male in ähnlichen Situationen und mussten vor Verfolgung fliehen. Unsere Weisen sagen, wenn man ein Leben rettet, ist es so, als hätte man die ganze Welt gerettet. Wir verwenden all unsere Energie, Ressourcen und Verbindungen, so viele Leben als möglich zu retten."
Vier Kinder und Jugendliche landeten inzwischen sicher in Albany, N.Y. – sie hatten schon in den vergangenen Jahren ein schweres Schicksal. Der Vater hatte für die US-Truppen gearbeitet, wird aber seit acht Jahren vermisst. Seine Frau floh mit den vier Kindern nach Pakistan und suchte um Asyl an – doch der Bruder ihres Mannes übernahm gegen ihren Willen die Vormundschaft für die Kinder und brachte sie zurück nach Afghanistan. Es entspricht den kulturellen Gepflogenheiten, dass die väterliche Familie sich in so einem Fall um die Kinder kümmert, heißt es in dem Bericht von Hamodia. Der Onkel habe sich jedoch nicht gut um die Kinder gekümmert. Der Bruder der Frau konnte sie aus dessen Obhut holen und erneut nach Pakistan bringen, doch 2020 überließ er sie – sie waren damals zwischen sieben und 17 Jahre alt – ihrem Schicksal. Sie kehrten nach Afghanistan zurück und waren auf sich alleine gestellt – die Mutter lebte inzwischen in Albany.
Nun bat sie um Hilfe, um ihre Kinder in die USA zu holen. Die detaillierten Schilderungen der Gefahren auf dieser Flucht in dem Hamodia-Bericht erinnern an so manche Erzählung aus den 1940er Jahren. Die Zeiten haben sich geändert, die Kommunikationswege sind andere, statt einen rettenden Zug zu erwischen, ging es hier darum, ein Flugzeug zu erreichen. Aber die Unwegbarkeiten sind dann eigentlich die nämlichen: lassen mich die Taliban durch? Lassen mich die Nazis durch?
Mena-Watch berichtete dieser Tage über eine weitere bemerkenswerte Rettungsaktion: eine charedische Gemeinde in Williamsburgh, Brooklyn, sammelte 80.000 Dollar, um mitzuhelfen, afghanische Fußballerinnen aus Kabul auszufliegen. Schließlich gelang es mit Hilfe kanadischer, britischer, schwedischer und australischer Soldaten 75 Personen, darunter Spielerinnen, Verbandsfunktionäre und deren Verwandte, nach Australien zu retten. Auch hier taucht wieder der Name von Rabbiner Margaretten auf, der auch Gründer und Präsident der Bürgerrechtsorganisation Tzedek Association ist.
Das sind vielleicht kleine Geschichten, aber schöne Geschichten und aufmunternde Geschichten. Dass das eigene Land, Österreich, hier seitens der zuständigen Minister jegliches diesbezügliche Engagement ablehnte, solange Rettungsflüge überhaupt noch möglich waren, empfinde ich als eine menschenrechtliche Bankrotterklärung. In einer Not, wie der derzeitigen in Afghanistan, muss geholfen werden – das ist eine moralische und eben menschenrechtliche Verpflichtung.
Ein neues Jahr beginnt
Im jüdischen Kalender beginnt kommende Woche ein neues Jahr: traditionellerweise werden dann Äpfel mit Honig gereicht, damit es ein gutes, ein süßes Jahr wird. Mein Jahr 5782 würde versüßt, würden die hiesigen Asylbehörden nun endlich jenen letzten vier Personen meiner befreundeten afghanischen Familie, die sich noch immer im Asylverfahren befinden, einen legalen Aufenthaltsstatus zuerkennen. Darunter befindet sich auch ein Mädchen, das kommende Woche in die erste Klasse eines Gymnasiums kommt. Welche Zukunft hätte dieses fleißige und wissbegierige Mädchen, würde man sie nun nach Afghanistan zurückschicken?
Aber nicht nur diese Aussichten wären bedrückend und bedrohlich. Auch auf anderer Ebene gilt es auf ein besseres Jahr 5782 zu hoffen. Die Antisemitismus-Meldestelle der Israelitischen Kultusgemeinde (IKG) Wien veröffentlichte nun einen Halbjahresbericht für 2021 und die Zahlen sind erschreckend: demnach hat sich die Zahl antisemitischer Vorfälle von Jänner bis Juni 2021 nämlich gegenüber dem Vorjahr auf 562 verdoppelt. Zum einen spielten hier die antisemitischen Zwischentöne bei Protesten gegen die Coronamaßnahmen eine Rolle, zum anderen sorgte die letzte Gaza-Krise für jede Menge Israel-bezogenen Antisemitismus. Was hier vor allem bedenklich stimmt: beim Thema Impfen kommen alte und überwunden geglaubte Verschwörungsmythen wieder hoch. Das zeigt, dass die Bekämpfung von Antisemitismus eine Sisyphos-Aufgabe ist. Sie wird auch 5782 nicht gänzlich zu stemmen sein. Aber hoffen kann man, dass sich hier ein bisschen etwas in die richtige Richtung bewegt.
In diesem Sinn: Schana tova!