Jedes Jahr gibt es diesen "Und täglich grüßt das Murmeltier"-Moment: wenn der Feiertagsreigen, der mit Rosch HaSchana, dem jüdischen Neujahrsfest, beginnt, und mit Jom Kippur, dem Versöhnungstag, seinen Höhepunkt findet, sich dann Richtung Sukkot, dem Laubhüttenfest, bewegt, dann gibt es in den hiesigen Breiten gefühlt immer einen Wetterumschwung und es wird kühler, bisweilen regnerisch. Und so war es auch dann auch zu Beginn dieser Woche. Nun spielt das Wetter im Allgemeinen bei religiösen Feierlichkeiten nicht unbedingt eine wichtige Rolle, doch zu Sukkot ist das anders: eine Woche verbringen observante Juden und Jüdinnen da ihren Alltag in einer Hütte – und diese Hütte hat kein Dach, damit der Blick auf die Sterne frei ist. Und ja, starker Wind oder Regen sind da nicht ganz so willkommen.

Laubhüttenfeeling the stylish way: zu Besuch in der Sukka von Gemeinderabbiner Hofmeister.
- © Alexia WeissHeute ist allerdings ein sonniger Tag, an dem die Temperaturen noch einmal kräftig in die Höhe geklettert sind. Ein idealer Tag also für einen Besuch in einer Sukka. Von den knapp 8.000 Mitgliedern der Wiener jüdischen Gemeinde kommt etwa die Hälfte dieser Mitzwa, diesem Gebot, nach, sagt Wiens Gemeinderabbiner Schlomo Hofmeister. Genutzt werden dabei einerseits Gemeinschaftssukkot und andererseits stellen auch viele Familien ihre eigene Laubhütte auf, zum Beispiel auf einem größeren Balkon, einer Terrasse, in einem Garten.
Rabbiner Hofmeister hat seine Familiensukka heuer im Hof eines Privathauses in der Leopoldstadt aufgebaut, in dem sonst Autos parken. Nebenan stehen drei weitere Sukkot. Manche Laubhütten sind schlicht gehalten, einfache Holzhütten eben, mit Klapptisch und Klappsesseln möbliert, man könnte auch sagen: minimalistisch. Die Sukka des Gemeinderabbiners hat dagegen gemütliches Wohnzimmerflair: die Wände sind mit in Rot- und Ockertönen gehaltenen Tüchern verkleidet, von den Verstrebungen des – eben nicht geschlossenen – Daches hängen mit Kerzen bestückte Leuchter. Den Tisch ziert ein dunkelrotes zur Wanddekoration passendes Tischtuch, unter ihm sorgt ein Heizkörper bei Bedarf für wohlige Wärme. Auf einem Sideboard steht majestätisch ein Samowar und man kann es sich hier auch auf einem Sofa gemütlich machen. Dieses ist übrigens ausziehbar und hier schläft der Rabbiner während dieser Woche gemeinsam mit seinen fünf Söhnen.
Untertags, wenn nicht Feiertag ist wie an den ersten beiden Tagen von Sukkot, wird in der Sukka aber auch gearbeitet. Dann wird der Tisch, um den sich mittags und abends Familie und auch Gäste für ein gemeinsames Festmahl sammeln, kurzerhand zum Büro, in dem auch Laptop und Smartphone nicht fehlen dürfen. "Es sollten zwar auch die Zwischenfeiertage arbeitsfrei sein, aber als Rabbiner hat man Aufgaben zu erledigen, rabbinische Aufgaben, da geht es nicht ums Business – man könnte auch sagen: das Rabbinat ist im Sukka-Office."
Die Sukka-Einrichtung habe er teils bereits in seiner Zeit in England benutzt, anderes sei in seinen Jahren in Israel dazugekommen, erzählt der Rabbiner. Nun macht sie schon seit vielen Jahren in Wien aus seiner Sukka einen sehr behaglichen Ort. "Man kann Mitzwot minimalistisch erfüllen, aber man kann es auch auf schöne Art und Weise machen. Und wenn ich sieben Tage in der Sukka wohne, dann brauche ich mein Bett, Licht, meinen Tisch, meine Bücher."
Nicht alle, aber viele, die über eine eigene Sukka verfügen, würden in dieser auch schlafen, so der Gemeinderabbiner. Aber das sei kein Muss, wer etwa nicht gesund genug dafür sei oder Sorge habe, sich zu erkälten, schlafe zu Hause. Sein eigenes Zuhause sieht der Rabbiner in dieser Woche einmal am Tag, wenn er in seine Wohnung in der Innenstadt geht, um zu duschen und das Gewand zu wechseln.
Eines der drei Wallfahrtsfeste
Sukkot ist eines der drei jüdischen Wallfahrtsfeste. Die beiden anderen – Pessach und Schawuot – sind dabei an spezifische Momente geknüpft: zu Pessach erinnert man sich an den Auszug aus Ägypten, zu Schawuot an die Offenbarung der Tora. Sukkot dagegen erinnere an den langen Zeitraum der 40jährigen Wanderung durch die Wüste, erläutert Rabbiner Hofmeister. Und damals hätten die Menschen der Überlieferung nach in genau solchen schnell auf- und abbaubaren Hütten ohne festes Dach geschlafen.
Die Sukka müsse daher über ein Sechach, eben ein durchlässiges Dach verfügen. Warum ist das so wichtig? "Das bringt zum Ausdruck: wir verlassen uns nicht auf das Dach oder ein starkes Gebäude. Wir verlassen uns auf HaSchem. Ohne Schutz von HaSchem ist der Schutz des Gebäudes nichts wert." HaSchem bedeutet im Hebräischen "der Name" und wird verwendet, um über Gott zu sprechen.
In der Praxis schützt dieses durchlässige Dach dann allerdings nicht vor Regen. Und was dann? Dann könne man rasch einen temporären Schutz, etwa in Form einer Plastikplane, drüberziehen und sei auch vom Aufenthalt in der Sukka entbunden, so der Rabbiner.
Insgesamt kommt übrigens auch diesem temporären, nicht fixen Moment der Sukka eine Symbolik zu. "Die Sukka symbolisiert nicht nur die Wanderung. Diese Woche erinnert uns auch, dass auch wir im Leben eine Wanderung unternehmen, dass alles Materielle nicht ewig und auf Dauer bedeutungslos ist. Nur das Spirituelle ist für die Ewigkeit. Wir sind auf dieser Reise und das spüren wird. Diese Woche ist auch stark mit Reflexion verbunden."
Stichwort Reflexion: gerade zu Sukkot wird von vielen Einweggeschirr verwendet. Wenn man täglich Gäste hat und die Sukka oft nicht auf Wohnebene ist, ist es schwierig, Geschirr zum Waschen hinauf- und hinunterzutragen. Wie umweltfreundlich oder –schädlich ist das? "Umweltschutz ist ein halachisch relevantes Thema", sagt mir dazu der Rabbiner. Die Halacha ist das jüdische Recht. Und dieses spreche sich klar gegen Ressourcenverschwendung aus.
Seine Familie und er verwenden unter dem Jahr prinzipiell kein Einweggeschirr, erzählt Rabbiner Hofmeister, zu Sukkot aber lebe man einen Kompromiss: er habe Geschirr aus Papier, aber nicht aus Plastik und die Plastikbecher, die er aus dem Sideboard hervorholt, um sie mir zu zeigen, sind keine Einwegbecher. Sie werden immer wieder gewaschen und erneut benutzt. Aber ja, räumt der Rabbiner ein, das Thema finde insgesamt noch zu wenige Beachtung, "mehr und mehr entwickelt sich aber auch da ein Bewusstsein dafür".
Alle drei jüdischen Wallfahrtsfeste sind übrigens auch Erntedankfeste. Sie seien zwar erst mit der Tora verankert, aber zu saisonalen Erntezeiten angelegt worden, erläutert dazu der Rabbiner. Sukkot ist dabei das Fest der Freude.
Die mehrwöchigen Feierlichkeiten zu Beginn eines neuen Jahres starten besinnlich mit Rosch HaSchana, dann komme der schwere Jom Kippur und Sukkot bringe dann eben die Freude, das Feiern. "Erst durch die Freude können wir uns verwirklichen." Den Abschluss bildet nach Sukkot Simchat Tora, das Torafreudenfest. In diesen Wochen zu Jahresbeginn werde bewusst gemacht, dass man es selbst in der Hand habe, wie das neue Jahr werden werde. "Wir haben es in der Hand."
Neue Perspektiven
Die Woche in der Sukka trage dazu bei, neue Perspektiven zu eröffnen. "Man wohnt woanders, man ist dem Wind und der Natur ausgesetzt", so der Rabbiner. Aber auch die Gemeinschaft ist wichtig. So komme man auch auf neue Gedanken, bekomme – vielleicht vergleichbar wie auf einer Reise – neue Inputs. "Der Szeneriewechsel inspiriert. Dinge, über die man schon lange nachgegrübelt hat, lösen sich vielleicht." Das habe er in der Vergangenheit auch schon mehrmals selbst bei sich beobachtet, erzählt Rabbiner Hofmeister.
Und als ich mich dann verabschiede und aus der Hütte hinaustrete in diesen Leopoldstädter Hinterhof und weitergehe, zunächst aus dem Haus hinaus auf die Gasse und weiter bis zur U-Bahn, die mich wieder nach Hause bringt, habe ich so das Gefühl, da in dieser eben auch so schmuck und orientalisch angehaucht eingerichteten Sukka wie in einer anderen Welt gewesen zu sein. Ja, dieser Urlaubs- und Reisemoment ist da definitiv da. Und ja, da eröffnen sich Gedankenräume. Sitzt man in der Sukka, ist der normale Wiener Alltag gefühlt tatsächlich weit weg.
Und wieder einmal denke ich mir, dass das Judentum so viele Elemente in sich vereint, die dafür sorgen, dass der Mensch sich erholen kann, Pausen machen kann, die aber immer auch konstruktiv dazu verwendet werden, um den Geist zu füttern. Man muss sich allerdings auch einlassen darauf. Wer nur gestresst zunächst die Hütte aufbaut und dann damit beschäftigt ist, zu kochen und Getränke heranzuschleppen, der übertüncht hier vielleicht diese Möglichkeit des Innehaltens und der Reflexion. Am Ende kann der Einzelne also auch hier gestalten: befolge ich einfach Regeln oder folge ich ihnen mit Freude und damit auch mit einer Prise Leichtigkeit. Genau diese Leichtigkeit war heute in dieser Sukka in einem Wiener Hinterhof zu spüren.