"Woke", laut Duden: "in hohem Maß politisch wach und engagiert gegen (insbesondere rassistische, sexistische, soziale) Diskriminierung". Gebrauch: auch abwertend.
"Wokeness", laut Duden: "hohe (gelegentlich engstirnige oder mit militantem Aktivismus verbundene) Sensibilität für insbesondere rassistische, sexistische Diskriminierung, soziale Ungleichheit u. Ä."
Eine besonders paradoxe anmutende Ausformung des Antisemitismus begegnet uns aktuell in der so genannten Querdenker- und –denkerinnenszene: um maximale Aufmerksamkeit für die von ihnen angeprangerte vermeintliche Einschränkung ihrer Freiheitsrechte zu erzielen, vergleichen sie sich mit Anne Frank oder Sophie Scholl, sie sehen sich "in die dunkelsten Zeiten" zurückversetzt. Damit relativieren sie die Schoa, damit reden sie das Leid der damals Verfolgten klein. Auf die Spitze getrieben könnte man auch sagen: wenn in der NS-Zeit Freiheitsberaubung so ausgesehen hätte, wäre es nicht angebracht, beim Holocaust von einem historisch einzigartigen Menschheitsverbrechen zu sprechen. Und ja, im Ergebnis ist diese Relativierung antisemitisch.
Verqueres Denken scheint zur Stunde allerdings insgesamt en vogue zu sein. Erzürnt hat mich dieser Tage die völlig deplatzierte Wortmeldung der US-Schauspielerin Whoopi Goldberg. Sie hatte erklärt, beim Holocaust sei es "nicht um Rasse" gegangen. Fast schon obsolet scheint es, zu erklären, dass die Verfolgung von Juden und Jüdinnen auf Basis der Nürnberger Rassegesetze erfolgte. Und nein, ich sage damit nicht, dass Juden und Jüdinnen eine Rasse sind. Wer das aber gesagt hat, waren die Nazis. Und deshalb ging es bei der Schoa natürlich um Rassismus.
Aber ja, Goldberg ist eine starke und prominente Stimme des schwarzen Amerikas und in den USA wird der Konflikt zwischen Menschen mit heller und Menschen mit dünklerer Hautfarbe auf Grund zahlreicher Fälle von exzessiver Polizeigewalt gegenüber people of colour aktuell auf verschiedensten Ebenen ausgetragen. Eine starke Rolle kommt dabei der Bewegung "Black Lives Matter" zu. Allerdings schreckten gerade BLM-Vertreter bei der jüngsten kriegerischen Auseinandersetzung zwischen der radikalislamischen Terrororganisation Hamas und Israel im Frühjahr 2021 nicht davor zurück, Partei gegen Israel zu beziehen. Auch das verstörte, denn das eigentliche Anliegen von BLM ist wichtig und unterstützenswert.
Israel-bezogener Antisemitismus
Der deutsche Autor, Journalist und Blogger Sascha Lobo ließ jüngst in seiner Kolumne im "Spiegel" mit einem interessanten Begriff aufhorchen: er schrieb von "wokem Antisemitismus". Was er damit meint? Wenn Menschen, die in anderen Kontexten gegen Diskriminierung jeder Art auftreten, zwar nie etwas vermeintlich offen Antisemitisches formulieren würden, aber blind zu sein scheinen, wenn es um Israel-bezogenen Antisemitismus geht. Als Beispiel führt er auch einen zu Monatsbeginn erschienenen Bericht der NGO Amnesty International zu Israel an. Darin ist von "Apartheid gegen Palästinenser*innen" die Rede.
Auf der österreichischen Seite von Amnesty International ist dazu aktuell zu lesen: "Unser Bericht zeigt das wahre Ausmaß des israelischen Apartheidregimes. Ob sie nun im Gazastreifen, in Ostjerusalem, in Hebron oder in Israel selbst leben, die Palästinenser*innen werden als separate und nachrangige Gruppe behandelt und systematisch ihrer Rechte beraubt. Die Recherchen zeigen eindeutig, dass Israels Politik der Segregation, Enteignung und Ausgrenzung in allen von den israelischen Behörden kontrollierten Territorien der Apartheid gleichkommt. Hier muss die internationale Gemeinschaft handeln", sagt Agnès Callamard, internationale Generalsekretärin von Amnesty International."
Und Callamard weiter: "Es gibt keine Rechtfertigung für ein System, das auf der institutionellen und andauernden rassistischen Unterdrückung von Millionen von Menschen beruht. Apartheid hat keinen Platz in unserer Welt und Staaten, die sich dafür entscheiden, hier Zugeständnisse an die israelische Regierung zu machen, werden sich auf der falschen Seite der Geschichte wiederfinden. Regierungen, die Israel weiterhin mit Waffen beliefern und das Land vor der Rechenschaftspflicht in der UNO schützen, unterstützen ein Apartheidsystem, untergraben die internationale Rechtsordnung und verschlimmern die Menschenrechtsverletzungen am palästinensischen Volk. Die internationale Gemeinschaft muss sich mit der Apartheid durch die israelischen Behörden auseinandersetzen und die vielen Möglichkeiten für die Schaffung einer gerechteren Situation verfolgen, die bislang nicht wahrgenommenen wurden."
Ja, wer weiß, dass es sich bei Israel um die einzige Demokratie in der Region handelt, wer weiß, dass Juden, Muslime, Christen israelische Staatsbürger sind, wer weiß, dass es nicht nur jüdische Parteien im israelischen Parlament gibt, der wundert sich. Und noch mehr wundert man sich über eine derart undifferenzierte Stellungnahme seitens einer Menschenrechtsorganisation.
Kritik an Bericht von Amnesty International
Der Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde (IKG) Wien, Oskar Deutsch, fand hier klare Worte: "Mit als Fakten verkleideten Lügen verbreitet die britische Abteilung von Amnesty International Unwahrheiten und antisemitische Vorurteile über die einzige Demokratie im Nahen Osten. Ein Schlag ins Gesicht der aufrichtigen Menschenrechtsaktivisten." Und Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, erklärte: "Der Bericht von Amnesty International wird der Wirklichkeit in Israel in keiner Weise gerecht. Einen solchen Bericht zu veröffentlichen, halte ich auch deshalb für fahrlässig, weil er den ohnehin verbreiteten israelbezogenen Antisemitismus in Europa weiter schüren wird."
Sascha Lobo führt in seinem Kommentar im "Spiegel" aber auch noch ein anderes Beispiel an: die nunmehrige deutsche Kulturstaatsministerin Claudia Roth (Grüne) habe im Bundestag dagegen gestimmt, dass die Boykottbewegung BDS (Boycott, Divestment, Sanctions) als antisemitisch zu bezeichnen sei. "Das ist nicht nur deshalb traurig, weil im Bereich der Kultur viel an wokem Antisemitismus zu adressieren und bekämpfen wäre", meint Lobo, "sondern auch, weil Claudia Roths ansonsten großer und wichtiger Kampf gegen Diskriminierung dadurch Schaden nimmt."
Fairerweise ist hier zu sagen: BDS gelang es in Österreich nicht wirklich, an Terrain zu gewinnen. Hier gibt es einen Schulterschluss aller im Parlament vertretenen Parteien. Sie brachten Ende 2019 diesen sehr klar formulierten Entschließungsantrag ein:
"Der Nationalrat verurteilt jede Form von Antisemitismus, einschließlich israelbezogenen Antisemitismus, mit Nachdruck und fordert die Bundesregierung auf, diesen Tendenzen entschlossen und konsequent entgegenzutreten. Die Bundesregierung wird weiters aufgefordert,
- eine ganzheitliche Strategie zur Verhütung und Bekämpfung aller Formen von Antisemitismus als Teil ihrer Strategien zur Verhütung von Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Radikalisierung und gewaltbereitem Extremismus unter enger Einbeziehung aller relevanten Stellen zu entwickeln;
- die BDS-Bewegung und ihre Ziele, insbesondere den Aufruf zum Boykott von israelischen Produkten, Unternehmen, Künstlerinnen und Künstlern, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern oder Sportlerinnen und Sportlern scharf zu verurteilen;
- Organisationen und Vereinen, die sich antisemitisch äußern oder das Existenzrecht Israels in Frage stellen, keine Räumlichkeiten und Infrastruktur zur Verfügung zu stellen;
- Veranstaltungen der BDS-Bewegung oder von Gruppen, die deren Ziele verfolgen, weder finanziell noch in anderer Form zu fördern.
- die Rolle Österreichs als hervorragende Stätte des internationalen Dialogs und Austausches weiter zu pflegen."
Es gibt ja aber nicht nur das offizielle Österreich. Und kein Diskurs wird heute nur mehr auf nationaler Ebene ausgetragen. Ein Statement von Whoopi Goldberg wird ebenso global diskutiert wie ein Report von Amnesty International. Gerade im Rassismusdiskurs kommen aus den USA teils merkwürdige Töne: Juden werden da als "weiß" gelesen, dass sie auch in den Vereinigten Staaten auf eine bedrückende Diskriminierungsgeschichte zurückblicken, wird da außen vor gelassen. Und auch der Kolonialismusdiskurs führt da zu merkwürdigen Blüten. Nun ist unbestritten, dass diese Debatte zu führen ist. Aber zu sagen, Israel sei in der Tradition von westeuropäischem Kolonialismus zu sehen, ist doch, und hier passt es sehr gut, finde ich, ein Zeichen von "wokem Antisemitismus".