Das Gute, das Böse, und vieles dazwischen: Der Kampf gegen Rechtsextremismus ist in der Kategorie gut einzureihen, der Nationalsozialismus in der Kategorie böse. Dass es Menschen gibt, die Antifaschisten als linksextreme Bedrohung sehen – die Antifa! – konnte ich noch nie nachvollziehen. Dass Menschen, die sich als antifaschistisch bezeichnen, die Israel-Boykott-Bewegung BDS unterstützen, ebensowenig.
In der Covid-Pandemie lernten wir zudem: um maximale Aufmerksamkeit zu erzielen, wird auf das Menschheitsverbrechen schlechthin – die Schoa – referenziert. Präventionsmaßnahmen- und Impfgegner vergleichen sich dann schon einmal mit Anne Frank, mit Sophie Scholl, mit den in der NS-Zeit verfolgten Juden und Jüdinnen generell, indem sie sich einen "Judenstern" mit "Ungeimpft"-Aufschrift anheften. Dass sie damit gleichzeitig den Holocaust relativieren, scheint ihnen nicht bewusst zu sein – oder es ist ihnen egal. Schließlich geht es nur um Aufmerksamkeit, um die bestmögliche Inszenierung des vermeintlichen eigenen Opferstatus.
Und nun: allgemeine Schockstarre angesichts des Angriffskriegs des russischen Präsidenten Wladimir Putin in der Ukraine. Ist das, was wir da seit gestern, Donnerstag, Früh, erleben, überhaupt völkerrechtlich erlaubt? Das scheint Putin herzlich egal. Gerissen hat es mich, als ich seine Rede, seine Erklärung, man muss sagen, seine Kriegserklärung, in deutscher Übersetzung las. Gerissen hat es mich bei diesem Begriff: "Entnazifizierung."
Putin verweist in seiner Erklärung auf ein Ersuchen "der Volksrepubliken des Donbass" an Russland um Hilfe, deshalb habe er nun die Entscheidung getroffen, "eine Sonder-Militäroperation" durchzuführen. "Ihr Ziel ist der Schutz der Menschen, die seit acht Jahren Misshandlung und Genozid ausgesetzt sind. Und zu diesem Zweck werden wir uns um die Entmilitarisierung und Entnazifizierung der Ukraine bemühen und diejenigen vor Gericht stellen, die zahlreiche blutige Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung, einschließlich der Bürger der Russischen Föderation begangen haben."
Rhetorische Frage Nummer eins: wenn es um ein Ersuchen von Donezk und Luhansk ging, warum ist Kiev militärisches Ziel? Rhetorische Frage Nummer zwei, gestellt vom ukrainischen Präsident Wolodymyr Selenskyj: "Wie kann ich ein Nazi sein?" Das ist eine ganz wesentliche Frage, denn sie rückt Putins Entnazifizierungsrechtfertigung in das eingangs skizzierte Feld absurder Referenzen und Vergleiche. Warum? "Man sagt Ihnen, wir (Ukrainer) seien Nazis. Aber kann ein Volk, das mehr als acht Millionen Menschen im Kampf gegen den Nationalsozialismus verloren hat, den Nationalsozialismus unterstützen?", betonte Selenskyj nach dem Einfall der russischen Truppen in einer Fernsehansprache.
Warum dieser Vergleich aber auch auf der persönlichen Ebene unpassend ist: Selenskyj ist Jude und hat daraus auch nie ein Geheimnis gemacht. Als die Ukrainer ihn 2019 wählten, wandten sie sich gegen Neonazis und Nationalisten. Sie stimmten für Selenskyj, weil dieser versprochen hatte, gegen Korruption, gegen soziale Ungleichheit und das verantwortungslose Agieren mancher politischer Kräfte aufzutreten.
Wir alle wissen, dass es im Grund völlig egal ist, was in dieser Kriegserklärung steht. Völkerrechtlich ist die Sache klar. Spannend ist, wie Putin das inszeniert. Und warum er es gerade so inszeniert. Und da kommt wieder diese Unantastbarkeit der Schoa ins Spiel, aber eben in einer völlig pervertierten Form. Hilft das Mäntelchen der "Entnazifizierung", um einen Angriffskrieg zu rechtfertigen? Neutral betrachtet natürlich nicht. Kommunikationstechnisch, wenn man den Bürgern und Bürgerinnen im eigenen Land einen Krieg verkaufen muss, sieht es aber vielleicht anders aus. Wir kämpfen ja für eine gute Sache, sollen da die Männer, die nun mit der Waffe in der Hand losgeschickt werden, überzeugt sein. Es wäre ja auch schwer, sie zu motivieren, wenn Putin einfach nur sagen würde: ich will das so.