Pikuach Nefesh: das ist im Judentum das Gebot, Menschenleben zu schützen. In der Pandemie bedeutete das vor der Verfügbarkeit von Impfstoffen, andere durch Maskentragen und Abstandhalten vor einer Infektion zu bewahren. In Kriegszeiten bedeutet das: Geflüchteten einen sicheren Hafen zu bieten und jenen, die sich noch im Kriegsgebiet befinden, mit dem Notwendigsten zu helfen, sodass sie hoffentlich irgendwie überleben.

Oft ist dieser Tage die Rede davon, dass es sich bei den ukrainischen Flüchtlingen um europäische Nachbarn handle. Ja, das stimmt. Wenn diese Feststellung dazu dient, einen Ausgrenzungsdiskurs gegenüber Geflüchteten aus Afghanistan oder afrikanischen Ländern zu führen, dann stört mich das. Wer fliehen muss, muss fliehen und braucht Unterstützung.

Aber ja, Ukrainer und Ukrainerinnen sind kulturell Österreichern und Österreicherinnen wohl näher als Menschen aus weiter entfernten Staaten. Dabei spielt Religion durchaus eine wichtige Rolle. Viele Ukrainer sind Christen. Bisher war die Ukraine aber auch Heimat der fünftgrößten jüdischen Gemeinde der Welt – nach den USA, Israel, Russland und Frankreich. Laut European Jewish Congress (EJC) lebten bis Kriegsbeginn bis zu 400.000 Juden und Jüdinnen in dem Land, in dem nun der von Russland begonnene Krieg für Zerstörung, Tod und Leid sorgt.

Gemeinsame Geschichte

Die Wiener jüdische Gemeinde verbindet mit Juden aus der Ukraine aber weit mehr als nur das Judentum. Kaum eine aschkenasische Familie kann nicht auf Vorfahren aus dem früheren Lemberg, aus Odessa, aus Czernowitz zurückschauen. Manches ältere Gemeindemitglied wurde sogar noch selbst auf dem Gebiet der heutigen Ukraine geboren.

Galizien gehörte von 1867 bis 1918 zur österreichischen Monarchie. Die antijüdische Stimmung nahm in dieser Zeit allerdings immer weiter zu, nicht zuletzt auch geschürt durch die Kirche, und so zog es viele Juden und Jüdinnen nach Wien. Jene, die blieben, sollte der NS-Terror Jahrzehnte später massiv heimsuchen: mehr als 1,5 Millionen ukrainische Juden und Jüdinnen wurden ermordet.

Ins kollektive Gedächtnis hat sich dabei vor allem das Massaker in Babi Jar nahe Kiev eingebrannt, bei dem an zwei Septembertagen im Jahr 1941 mehr als 33.000 Menschen umgebracht wurden. Dass Russland nun die Gedenkstätte in Babi Jar bombardierte, kritisierte Ministerpräsident Wolodymyr Selenskyj entsprechend scharf. Einige seiner Vorfahren – die Familie ist jüdisch - waren von den Nazis ermordet worden.

Während Wiener aschkenasische Juden mit den Juden aus der Ukraine einerseits der gemeinsame Ritus, andererseits eben die k.u.k.-Geschichte und die damit einhergehende Nostalgie verbindet, verbindet die in Wien lebenden Juden, deren Familien aus Georgien oder Zentralasien stammen, wiederum die gemeinsame Sowjet-Geschichte. Und in jenen Familien, die aus der Buchara (meist über Israel) nach Österreich ausgewandert sind, wird bis heute noch oft Russisch gesprochen. Genau das erweist sich in der momentanen Situation als sehr hilfreich.

Unter den Millionen Menschen, die derzeit aus der Ukraine flüchten, befinden sich auch viele Juden und Jüdinnen. Israel fliegt aktuell eine Maschine nach der anderen mit ukrainischen Geflüchteten nach Tel Aviv aus. Dort befindet sich bereits eine große ukrainische Gemeinde, schon in den 1990er Jahren kam es zu einer großen Auswanderungswelle nach Israel.

Chabad ist in der Ukraine sehr aktiv

Gar nicht so wenige Juden und Jüdinnen aus der Ukraine sind seit Kriegsbeginn aber auch in Wien gelandet. Das Gros der observanten Juden in der Ukraine gehört heute eine der vielen Chabad-Gemeinden im Land an. Chabad hat in den vergangenen Jahrzehnten eine beeindruckende Infrastruktur aufgebaut, zum Beispiel in Dnipropetrovsk, meist nur Dnipro genannt. Dort wurde 2012 das Menorah Center eröffnet, ein jüdisches Kulturzentrum, das aus sieben Türmen, die neben der Goldene-Rosen-Synagoge platziert wurden, besteht.

Auch in Wien gibt es eine aktive Chabad-Gemeinde, sie betreibt im Augarten auch eine der beiden großen jüdischen Schulen, den Lauder-Chabad-Campus, geleitet von Rabbiner Jacob Biderman. Und so kommen nun einerseits Menschen aus Chabad-Gemeinden vor allem aus Dnipro gezielt zu Chabad nach Wien, andererseits aber auch Juden und Jüdinnen aus Kiev und anderen Städten der Ukraine.

Mit Wochenbeginn sind bereits 700 Juden und Jüdinnen aus der Ukraine in Wien. Die Unterstützung seitens der Wiener jüdischen Gemeinde lief bereits kurz nach Kriegsbeginn an und alle wollen nur eines: helfen, helfen, helfen. Bis Ende dieser Woche erwartet die Gemeindeführung, dass bereits an die 1.000 ukrainische Juden in Wien angekommen sein werden. Das ist einerseits keine leichte Aufgabe für eine Gemeinde, die knapp unter 8.000 Mitglieder zählt. Und dennoch sagen alle, mit denen man spricht: und wenn noch viel mehr Menschen zu uns kommen werden, wir werden das schaffen, wir müssen das schaffen. Israel Abramov, Obmann des Vereins bucharisches Juden (VBJ), formulierte es so: "Sie sind hier. Wir sind hier. Und wenn es sein muss, dann müssen wir eben auch in unseren Wohnungen zusammenrücken."

Klare Worte kommen auch vom Präsidenten der IKG Wien, Oskar Deutsch: "Krieg bringt Tod, Verletzte und schier unerträgliches Leid. Die dramatische Lage in der Ukraine und auf den Fluchtrouten löst Wut auf die Aggression durch die russische Führung, Mitgefühl mit der ukrainischen Bevölkerung aus, und bei manchen auch ein Gefühl der Ohnmacht. Aber wir sind nicht ohnmächtig, wir helfen."

Hilfe wird dieser Tage also groß geschrieben. Ob die IKG als Dachorganisation, aber eben auch die vielen verschiedenen Gruppen, die sich unter diesem Dach versammeln, alle helfen: von der bucharischen und georgischen bis zur Chabad-Gemeinde, der orthodoxen Kehille, der Reformgemeinde Or Chadasch. Es helfen die Jugendorganisationen von der Bnei Akiva über Jad be Jad bis zum Schomer HaTzair. Es helfen aber auch Einzelpersonen und Initiativen wie Shalom Alaikum – Jewish Aid for Refugees, die sich angesichts der Fluchtbewegungen von 2015 gründete.

Und schließlich verfügt die IKG auch über Einrichtungen, die hier nun professionell mit Rat und Tat und konkreter Hilfestellung bereit stehen: da ist zum einen ESRA, das psychosoziale Zentrum der IKG, das sowohl sozialarbeiterische Unterstützung als auch medizinische Hilfe, vor allem aber Psychotherapie und dabei vor allem Traumatherapie anbietet. All das wird nun dringend gebraucht. Das Jüdische Berufliche Bildungszentrum (JBBZ) wiederum bot schon bisher Deutschkurse sowie ein breites Spektrum an beruflichen Qualifizierungsmaßnahmen an. Und da ist die ZPC-Schule. Sie hat ebenso wie der Lauder-Chabad-Campus bereits jüdische Kinder aufgenommen. An beiden Schulstandorten setzt man sich auch bereits mit der Frage auseinander, wie man dem Thema Raumnot begegnen soll. Gesucht werden zudem Pädagogen und Pädagoginnen, die auch Russisch oder Ukrainisch sprechen.

Wohnungen und Schulplätze

Vor allem aber geht es nun einmal um die Basics: ein Dach über dem Kopf, Mahlzeiten, das wichtigste von Hygieneartikeln bis zu Babybedarf. Dazu haben Gemeindemitglieder inzwischen vier Hotels zur Verfügung gestellt. Hier können die Betroffenen für ein paar Tage zur Ruhe kommen, bis eine Wohnung für sie gefunden wurde. Mehr als 100 Personen fanden in den bisher zur Verfügung gestellten Wohnungen bereits eine dauerhaftere Bleibe. Alle bekommen ein Willkommenspaket der Gemeinde, das neben Informationen und einer SIM-Karte vor allem ein einmaliges Startgeld enthält, bis die Grundsicherung des Staates zu greifen beginnt.

Es gibt täglich koscheres Essen, das an mehreren Orten und von verschiedenen Einrichtungen organisiert wird, psychosoziale Betreuung durch ESRA und im JBBZ sieht man sich bereits an, wer über welche Qualifikationen verfügt und wie eine Integration in den österreichischen Arbeitsmarkt gelingen kann. Viele Gemeindemitglieder spendeten Kleidung und Kindersachen, beides wird über das Erwachsenen- und das Kindergmach abgegeben. Freiwillige helfen in den Hotels, egal ob es dabei um das Beschaffen von Windeln, einer Adresse oder das Kontaktherstellen mit jenen geht, die in der Ukraine verbleiben mussten. Geflüchtet sind vor allem Frauen mit Kindern, meist noch eher jüngeren Kindern vom Baby- bis zum Volksschulalter. Aber auch die Neschume darf nicht zu kurz kommen: Vergangene Woche wurde Purim gefeiert, dabei wurde ein Fest für die Geflüchteten im Gemeindezentrum organisiert. Als Koordinator all dieser Aktivitäten hat die IKG Maxim Slutski ernannt. Er stammt selbst aus der Ukraine und war unter den ersten, die hier in der Wiener Community nun in Sachen Flüchtlingshilfe aktiv wurden.

Schön finde ich, dass jeder und jede überlegt, wie er oder sie helfen kann. Man kann über ein auf der IKG-Homepage eingerichtetes Spendenportal spenden, aber auch eintragen, ob man eine Immobilie – eine Wohnung, aber auch ein freies Zimmer in der eigenen Wohnung – zur Verfügung stellen oder ob man ehrenamtlich mitarbeiten kann. Das Team von Shalom Alaikum unterstützt einerseits eine Initiative, die Menschen gezielt aus der Ukraine herausbringt. "Wir arbeiten aber auch daran, Deutschunterricht für Geflüchtete zu organisieren", so Vorstandsmitglied Sonia Feiger.

Lebensmittellieferungen

Die Kehille wiederum sammelt Lebensmittel – koschere und nicht koschere – und transportiert diese in Flüchtlingslager in Polen, Moldau, Ungarn, Rumänien und der Slowakei. Teils versucht man, so möglich, auch Dinge des täglichen Bedarfs in die Ukraine zu liefern. Inzwischen habe man diese Hilfe schon professionalisiert und ein Lagersystem sowie neben Wien eine zweite Base in Budapest eingerichtet. 100 Paletten seien bis jetzt schon an Hilfsbedürftige geliefert worden, sagte Yaacov Frenkel von der Kehille . Wichtig ist ihm zu betonen: diese Hilfe richte sich nicht nur an jüdische Geflüchtete. "Wir machen wirklich keinen Unterschied. Nach dem Zweiten Weltkrieg haben wir gesehen, dass sich niemand um die jüdischen Flüchtlinge gekümmert hat. Wir haben gelernt, nicht so zu sein. In solchen Situationen, in denen es um das Leben von Menschen geht, muss man sich anders benehmen. Da hilfst du einfach. Das ist die Idee."

All das ist beeindruckend und ermutigend. Wie ich allerdings aus meiner eigenen Erfahrung der Begleitung von afghanischen Flüchtlingen weiß: auf die erste Euphorie, etwas zu bewegen und zu helfen, folgen irgendwann die Mühen der Ebene. Das gilt übrigens im Kleinen wie im Großen – für die jüdische Gemeinde ebenso wie Österreich insgesamt.

Nun einmal ein Dach über dem Kopf und genügend zu essen zu haben, ist jetzt das wichtigste. Aber die Kinder müssen Deutsch lernen, um dem Unterricht folgen zu können, die Erwachsenen müssen Deutsch lernen, um am Arbeitsmarkt zu reüssieren. Der Arbeitsmarkt in Österreich folgt anderen Regeln als in vielen anderen Ländern, man macht nicht einfach so ein Geschäft, ein Lokal, ein Unternehmen auf. Da müssen Steuern und Sozialversicherungsbeiträge bezahlt und viele Vorschriften berücksichtig werden. Viele Berufe erfordern zudem Formalqualifikationen, die erst nostrifiziert werden müssen. All das wird ein großer Kraftakt. Wenn hier mehr Menschen als nach dem kurzen Aufflackern von Willkommenskultur im Jahr 2015 allerdings einen langen Atem beweisen, dann werden wir alle gemeinsam auch das hinkriegen. Weil es um Menschen geht. Weil Menschenleben das wichtigste sind.

Spendenlink für die Flüchtlingshilfe der IKG Wien: https://tmicha.sicher-helfen.org/tmicha/notfall/?cf=wz0322