Der "Judenstern", "die Arisierung", die "Endlösung": mit der Freiluft-Ausstellung "Das Wiener Modell der Radikalisierung: Österreich und die Shoah" setzte das Haus der Geschichte Österreich jüngst auf dem Heldenplatz einen neuen Meilenstein in der Positionierung Österreichs im Umgang mit seiner NS-Geschichte. Die einleitend angeführten Begleiterscheinungen des nationalsozialistischen Terrors, die schließlich sechs Millionen Menschen das Leben kosten sollten, werden hier eindrücklich erklärt und mehr noch: Der Betrachter erfährt, dass in Wien vieles erprobt wurde, was schließlich zum Massenmord an europäischen Juden und Jüdinnen führte.
Seit dieser Woche ist die Schau nun in Floridsdorf zu sehen. Nahe des Bahnhofs und der U6-Endstation, vor der Pfarrkirche auf dem Pius-Parsch-Platz, wurden die einzelnen Stationen neu aufgestellt. Das Museum kommt so zu den Menschen und erreicht an diesem Platz vielleicht ein anderes Publikum als in der City. Nicht zuletzt sind hier auch viele Schulen im Umfeld. Vielleicht animiert das ja die eine oder andere Lehrperson, mit ihrer Klasse hier in den kommenden Wochen – zu sehen ist die Schau bis 7. Juni – vorbeizuschauen. Bewusstseinsarbeit kann niemals und hier besonders nicht schaden: seit Jahren toben sich in der Gegend zwischen Floridsdorf und Wagramer Straße immer wieder Hooligans mit antisemitischen Schmierereien aus.
Genau dort, in der Donaustadt, kam mir eben am Kagraner Platz ein Relikt aus dem Zweiten Weltkrieg unter. Neben dem Bezirksmuseum wurden im Freien Steine aufgestellt. "Zusammenbruch. Diese Steine sollen an die Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg erinnern. Sie stammen von der am 9. April 1945 gesprengten Nordwestbahn-Brücke", steht dazu auf einer Tafel. Gesprengte Brücken, Gleise, Straßen, zerbombte Häuser: das sind die Begleiterscheinungen von Krieg. Sie fallen freilich nicht einfach so vom Himmel, sie sind menschengemacht. Der Zweite Weltkrieg ist heute gefühlt weit weg. Vielleicht reißt es mich deshalb dieser Tage jedes Mal so, wenn jemand sagt: "Seit der Krieg ausgebrochen ist." Immer noch brauche ich einen Moment um zu begreifen, es ist von jetzt die Rede, von diesem Krieg, den Wladimir Putin am 24. Februar in der Ukraine begonnen hat.
10.000 Holocaust-Überlebende in der Ukraine
Es gibt Menschen, für die ist der Zweite Weltkrieg allerdings nicht so weit weg wie für uns, die lange nach 1945 zur Welt gekommen sind. Und es gibt auch noch tausende Menschen für die der NS-Terror nicht Geschichte ist, wie sie nun in Floridsdorf präsentiert wird. Gerade die ukrainischen Juden und Jüdinnen waren vom Mordprogramm Hitlers besonders betroffen: 1,5 Millionen Juden wurden in dem Land im Nationalsozialismus getötet. Von jenen, die fliehen konnten oder anderswie das Kriegsende erlebten, leben heute noch rund 10.000 Menschen.
Einer von ihnen war Boris Romantschenko. Der 96Jährige überlebte die Konzentrationslager Buchenwald, Dora-Mittelbau und das Bergen-Belsen. Bis zuletzt war er Vizepräsident des Internationalen Komitees Buchenwald-Dora. Nun bombardierte die russische Armee Charkiw, dabei wurde sein Wohnhaus getroffen. Romantschenko starb in seiner Wohnung. Der Schoa-Überlebende wurde im Rahmen eines Krieges getötet, den Putin unter dem Vorwand "Entnazifizierungsaktion" angezettelt hat. Vielleicht wird in 50, 60, 70 Jahren eine Freiluftausstellung in Kiev dieses absurde und so Tod bringende Kapitel der jüngsten Geschichte versuchen, einer künftigen Generation irgendwie zu erklären. Aus heutiger Perspektive erschließt sich die Erklärung noch nicht.
Die Claims Conference versucht nun alle Hebeln in Bewegung zu setzen, dass andere Holocaust-Überlebenden nicht dasselbe Schicksal ereilt wie Romantschenko. Sie bemüht sich um die Evakuierung der hochbetagten Menschen, was sich allerdings nicht leicht gestaltet: viele sind pflegebedürftig, was den Transport kompliziert macht und am Zufluchtsort entsprechende Betreuung erfordert. Viele wollen aber auch ihre Heimat nicht verlassen. Einer von ihnen ist Roman Schwarzmann. Der Schoa-Überlebende ist noch rüstig und organisiert für andere Juden und Jüdinnen die Flucht aus Odessa. Er selbst möchte aber bleiben. Klare Worte für das, was nun passiert, findet er trotzdem: "Als ich vier Jahre alt war, war es das faschistische Deutschland, das den Krieg anfing, heute ist es das faschistische Russland." Das sagte er diese Woche in einem kurzen Interview für den TV-Sender "Welt".
Konvois nach Deutschland
Im Deutschland von heute kommen indessen seit Ende März Konvois mit Holocaust-Überlebenden aus der Ukraine an, organisiert eben von der Claims Conference in Kooperation mit anderen Organisationen wie dem American Jewish Distribution Committee. Mehrere Dutzend Menschen kamen inzwischen auf diesem Weg nach Deutschland. Alle 10.000 Betroffenen wird man nicht aus dem Land herausbringen können. Aber wenn es gelänge jeden, der flüchten möchte, dies aber auf Grund seines Gesundheitszustands alleine nicht mehr kann, zu retten, dann wäre das sicher ein großer humanitärer Erfolg.
Auch die Wiener jüdische Gemeinde hat sich hier bereits Gedanken gemacht, wie mir IKG-Generalsekretär Benjamin Nägele dieser Tage erzählte. Man sei dazu in ständigem Austausch mit dem Zentralrat der Juden in Deutschland. Sollte es eine konkrete Anfrage geben, dass jemand nach Wien evakuiert werden möchte – etwa auch Angehörige jener bereits an die 750 jüngerer Juden und Jüdinnen aus der Ukraine, die schon in Wien angekommen sind - dann werde man sich um einen Transport, aber auch die dann nötige Unterbringung in einer Pflegeeinrichtung bemühen. Genau das ist allerdings hier das Schwierige: Solche Betreuungsplätze sind nicht reich gesät, Stichwort Pflegenotstand. Doch im Fall des Falles werde man alles in Bewegung setzen, um eine Lösung zu finden, sagt Nägele.
Dieser Krieg präsentiert so viele grausame Facetten: die Bombardierung tausender wartender Menschen auf dem Bahnhof von Kramatorsk, der nun publik wurde, ist eine davon. Eben sah ich ein Foto, das stehen gelassene Koffer und Kinderwägen zeigt, dazwischen auf dem Boden Blutflecken. Es sind Bilder wie dieses, die sich in das kollektive Gedächtnis einbrennen. Fotos von Menschen, die aus Konzentrationslagern befreit wurden, gehören auch zu diesem Fundus kollektiver Erinnerung. Wenn Befreite von damals nun von der russischen Armee getötet werden, ist das doppelt schmerzhaft. Aber auch jenen, die diesen Krieg überleben, hätte man einen beschaulicheren Lebensabend gegönnt. Denn die aktuellen Bombenangriffe triggern die Schoa-Überlebenden.
Tatyana Zhuravliova gehört zu jenen, die inzwischen nach Deutschland evakuiert wurden. Sie wurde in einem Pflegeheim in Frankfurt untergebracht. "Euronews" erzählte sie, sie habe nun dieselbe Panik gespürt, die sie als kleines Mädchen erlebte, als die Nazis Luftangriffe auf ihre Heimatstadt Odessa flogen. Nein, das wünscht man genau diesen alten, ohnehin ihr Leben lang geplagten Seelen nicht.