Vor vielen Jahren lernte ich in Wien beruflich Arye Sharuz Shalicar kennen, seitdem sind wir auch auf Facebook verbunden. Dort rückt der Politologe Shalicar, der viele Jahre Pressesprecher der israelischen Armee war, immer wieder unaufgeregt und faktenbasiert das Bild Israels zurecht, das betrifft Krisensituationen wie kürzlich die Steinewerfenden bei der Al Aqusa Moschee in Jerusalem, das betrifft aber vor allem auch seine Einträge zu seinem Alltagsleben mit seiner Familie in Israel. Diese sind großteils auf Deutsch formuliert – und das wiederum hat damit zu tun, dass Shalicar in Deutschland groß wurde.
Über sein Aufwachsen als iranstämmiger Jude, der aber völlig unreligiös erzogen wurde, in Berlin, wo er Mitglied einer aus Muslimen bestehenden Gang in Wedding wurde, erzählt er in seinem Buch "Ein nasser Hund ist besser als ein trockener Jude". Als die Gang erfährt, dass er Jude ist, ist allerdings Schluss mit lustig. Dieser Bruch bringt sein Leben auf eine neue Ebene und schließlich eben auch dazu, Aliya zu machen – also nach Israel auszuwandern. Im Vorjahr wurde das Buch von Damir Lukacevic unter dem Titel "Ein nasser Hund" in Deutschland verfilmt.
"Ein nasser Hund" ist diesen Sonntag Abend der heurige Eröffnungsfilm des Jüdischen Filmfestivals Wien, bei dem sich unter dem Motto "We are Family!" viele Filme um die Mischpoche, die Familie drehen. Das wiederum ist eine schlüssige Themenwahl: Die Covid-Pandemie hat durch das Herunterfahren des öffentlichen Lebens stark ins Private und damit eben die Familie geführt, die, wie IKG-Vizepräsident in ihrem Vorwort zum Festivalprogramm betont, im Judentum grundsätzlich "eine herausragende Rolle" spiele.
Der Krieg in der Ukraine trägt zudem auch nicht dazu bei, dass die Welt da draußen sich freundlicher anfühlt als in den vergangenen zwei Jahren. Und auch in diesem Krieg geht es ganz stark um Familien, die auseinandergerissen werden: Es fliehen vorrangig Frauen mit Kindern aus der Ukraine, Männer müssen bleiben, um das Land zu verteidigen.
Kinder auf der Flucht
Auch diese Fluchtbewegung berücksichtigen die Festivalmacher in ihrem Programm: Sie zeigen in einem kleinen weiteren Schwerpunkt Produktionen zum Thema "Kinder auf der Flucht". Als Österreich-Premiere zu sehen ist dabei Tobias Wiemanns Film "Der Pfad", der in die NS-Zeit in Frankreich entführt und schildert, wie ein Bub und ein Mädchen über die Pyrenäen flüchten. In "Truus Children" wiederum erzählt die Geschichte der Niederländerin Truus Wijsmuller, die mit Adolf Eichmann jenen Deal ausverhandelte, durch den schließlich an die 10.000 Kinder mit Kindertransporten nach England gerettet werden konnten. Sie finanzierte zudem die Reise von 600 Kindern. 23 von ihnen wurden für diesen Film interviewt. Weiters werden die Filme "Das Ass der Asse" (indem ein französischer Boxer einem deutschen jüdischen Buben hilft in die Schweiz zu flüchten) und "The Two of Us" gezeigt (hier wird ein achtjähriger französischer Bub in der NS-Zeit am Land versteckt).
Die Hauptschiene des Festivals, in dem sich eben alles um die Familie dreht, entführt die Besucher in verschiedenste Settings: Religiöse und säkulare Familien, Hochzeitsanbahnung und Scheidung. Einige Filme dürften Teilen des Publikums bereits bekannt sein, wie "Fill the Void" (Israel, 2012) oder "The Matchmaker" (Israel, 2010). Andere Produktionen sind neueren Datums, wie etwa "Honeymood" (Israel, 2020), wo sich die Hochzeitsnacht in eine andere Richtung entwickelt als erwartet werden könnte, oder "Marry me however" (Israel 2020) über Homosexualität in der Orthodoxie. Wie können hier Beziehungen gelebt werden?
Um Lebensentwürfe geht es auch beim Schwerpunkt "Frau und Mutter". Hier sticht besonders der Film "More than I deserve" (Israel/Deutschland 2021) ins Auge. Der Film erzählt die Geschichte von Tamara, die mit ihrem zwölfjährigen Sohn Pinchas aus der Ukraine nach Israel emigriert. Es ist ein Streifen über die Schwierigkeiten, sich in einem neuen Land zurechtzufinden, über Einsamkeit, über Religion und Atheismus. Die massive Fluchtbewegung aus der Ukraine macht diesen Film besonders aktuell. Tausende Menschen haben in den vergangenen Wochen bereits Zuflucht in Israel gesucht.
Barbra Streisand forever
Die diesjährige Personale ist Barbra Streisand gewidmet – die Ikone feiert heuer ihren 80. Geburtstag. Bei "Hello Dolly", "A Star is born", "Yentl", "Liebe hat zwei Gesichter" wird sich viel Nostalgie breit machen. Mit "Meet the Fockers" ist aber auch einer ihrer jüngeren Filme zu sehen.
Spielorte sind heuer die Village Cinemas, das Metro Kinokulturhaus und das Gartenbaukino, das gesamte Programm ist unter jfw.at abrufbar.
Stichwort Rückzug ins Private: Die Pandemie hat dem schon zuvor weit verbreiteten Streaming den Weg ins das Gros der Wohnzimmer geebnet. Und aus dem Wohnzimmer scheinen viele nicht mehr wirklich herauskommen zu wollen. Darunter leiden viele Kulturinstitutionen und damit auch Kinos. Gerade ein Festival, das etwa mit Publikumsgespräche mehr bietet als nur die Filme, könnte hier – das wäre jedenfalls fein – ein bisschen wie eine Art Katalysator funktionieren. Und wenn man dann schon einmal draußen ist, und dabei zum Beispiel am Sonntag bei der Vorführung von "Ein nasser Hund" auch einem Gespräch mit dem Regisseur, Darstellern und eben Shalicar, der bereits nach Wien angereist ist (und sich auf Social Media mit Fiaker und Café Landtmann im Rücken zeigte) folgen kann, weckt das vielleicht die Lust, noch mehr Kultur live zu konsumieren.