Am Anfang war die Erzählung: Russland müsse Krieg gegen die Ukraine führen, um diese zu "entnazifizieren". Dass mit Wolodymir Selenskyj ein Jude Präsident ist: Diese so offenkundige Absurdität schien Russland nicht zu stören. Inzwischen hat der russische Außenminister Sergej Lawrow sein Narrativ allerdings weiterentwickelt. In einem Interview mit einem italienischen Fernsehsender meinte er dazu: "Das weise jüdische Volk sagt, dass die eifrigsten Antisemiten in der Regel Juden sind." Und: Auch Adolf Hitler habe "jüdisches Blut" gehabt.
Es ist so absurd wie ärgerlich, vor allem aber gefährlich: Wenn der russische Außenminister eine solche Verschwörungstheorie bedient, dann ist das nicht einfach nur eine Aussage, über die man den Kopf schüttelt und sich denkt, nun ja, morgen ist die Zeitung von heute schon wieder Schnee von gestern. Solche Zitate sind Wasser auf den Mühlen von Antisemiten, sie werden nun im Netz aufgegriffen und weitergereicht werden – in Russland und auch anderswo. Seit Jahren ist bekannt, dass in russischen Troll-Fabriken Fake News für Social Media auch in vielen anderen Ländern fabriziert werden.
Bis heute erinnert man sich in Österreich an Russland als eine der vier Alliierten, als einer der vier Befreier vom Nationalsozialisten. Ja, gerade mit der russischen Armee werden dabei auch Greueltaten rund um das Ende des Zweiten Weltkriegs erinnert: Vergewaltigungen und Plünderungen. Dennoch: Russland war eine der Mächte, die dem Nationalsozialismus Einhalt boten.
"Antisemitische Brandbeschleuniger
Und nun also diese völlige Verdrehung von Perspektiven und Einordnungen. Der Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde (IKG) Wien, Oskar Deutsch, hielt dazu diese Woche fest: "Russlands Außenminister will offenbar ein neues Kapitel der Protokolle der Weisen von Zion schreiben. Er macht die Opfer der Shoah zu Tätern und verhöhnt damit nicht nur die Ermordeten, sondern fälscht die Geschichte. Moskau beleidigt damit auch die sowjetischen Helden, die für die Befreiung Europas vom Nationalsozialismus gekämpft und gefallen sind. Die antisemitischen Aussagen von Minister Lawrow sind brandgefährlich. Sie sind antisemitische Brandbeschleuniger."
Und genau das eben ist die Befürchtung. Dass Russlands Präsident Wladimir Putin hier nicht besonders zimperlich ist, zeigte er bereits in der Vergangenheit mit seinen Ausritten gegen den Shoah-Überlebenden und Philanthropen George Soros. Dieser mische sich überall ein, reagierte Putin etwa 2018 auf einen Vorwurf, er habe zwei Jahre zuvor versucht, den Wahlkampf in den USA zu beeinflussen.
Bill Niven, emeritierter Professor für Zeitgeschichte an der Nottingham Trent University in Großbritannien schreibt dazu nun in einem Kommentar für die "Jüdische Allgemeine": "Und erst kürzlich hat das russische Verteidigungsministerium auch Soros beschuldigt, Labore für biologische Waffen in der Ukraine mitfinanziert zu haben. Dieser ist für Putin der Inbegriff des ewigen Juden, der nichts anderes im Sinn hat als Unterwanderung, Umsturz und Destabilisierung. Vieles deutet darauf hin, dass Putin Selenskyjs Absichten ähnlich einschätzt."
Der Krieg, den wir derzeit alle in Europa nahezu live mitverfolgen können, wird, wann auch immer er endlich zu Ende geht, Machtverhältnisse, aber auch wirtschaftliche Beziehungen stark umgeschrieben haben. Ob sich daran auch eine soziale Krise anschließt oder ob diese abgefedert werden kann, werden wir noch sehen. Die Energiepreisentwicklungen und die hohe Inflation verheißen hier auch nichts Gutes. Die Politik versucht gegenzusteuern, es bleibt zu hoffen, dass dies in ausreichendem Maß gelingt.
In Russland sind die Auswirkungen der Embargos bereits massiv spürbar. Krisen wecken in Menschen das Bedürfnis, nach einem Sündenbock für sie zu suchen. Lawrow lieferte diesen mit seinen jüngsten Aussagen am Silbertablett.
Klaus Hillenbrand schrieb hier diese Woche in einem Kommentar in der taz von einer "Lunte an einem Pulverfass". "Denn wir können leider sicher sein, dass Lawrows Sätze auf fruchtbaren Boden fallen, nicht nur bei eingefleischten Rechtsradikalen, sondern auch bei denjenigen, die das Autoritäre an Russland lieben.
Sie haben nun mit dem Außenminister einer Atommacht einen gewichtigen Kronzeugen für ihre menschenfeindlichen Vorstellungen gefunden." Ja, das ist zu befürchten.