Das Erscheinungsdatum war bewusst gewählt: Am 12. November, einen Tag nach der Wahl des Vorstands der Israelitischen Kultusgemeinde (IKG) Wien brachte Peter Menasse, Chefredakteur des jüdischen, vierteljährlich erscheinenden Magazins NU (www.nunu.at), seine Streitschrift "Rede an uns" heraus. Warum an diesem Tag? Menasse kandidierte auch auf der Liste "Chaj – Jüdisches Leben" des Psychoanalytikers Martin Engelberg, der im Wahlkampf vor allem die Fraktion Atid (Hebräisch: Zukunft) des amtierenden und voraussichtlich auch künftigen IKG-Präsidenten Oskar Deutsch angriff und schließlich drei Mandate gewinnen konnte.

In "Rede an uns" übt auch Menasse scharfe Kritik an der aktuellen Führung der IKG, namentlich vor allem am früheren und heutigen Ehrenpräsident Ariel Muzicant. Ihm wirft der PR-Profi vor, zu rasch die Antisemitismuskeule hervorzuziehen, zu schnell den Begriff Schoa in aktuelle Debatten einzubringen, etwa in jene rund um das Kölner Urteil zum Thema Beschneidung im vergangenen Sommer.
Club 2: Das große Tabu: Darf man Juden kritisieren?
Kundgebung "Free Gaza from Hamas"
Worum es Menasse in der Schrift aber vor allem geht: Er appelliert an Österreichs Juden, sich von der Opferrolle zu verabschieden. Die vom Holocaust direkt betroffene Generation sei inzwischen mehrheitlich nicht mehr am Leben. "Unsere Vorfahren waren tatsächliche Opfer des grausamsten Verbrechens der Menschheitsgeschichte, aber wir heutigen Juden sind es nicht. Ich schlage daher vor, dass wir die Opferrolle aufgeben."
Gleichzeitig stellt Menasse die aktuellen Formen des Gedenkes, die Sinnhaftigkeit von Gedenkstätten in Frage. "Die Gedenkstätten beantworten die entscheidenden Frage, warum es zur Shoah gekommen ist, nicht." Einen solchen Ort nimmt der Autor hier aus: Yad Vashem. "In Jerusalem steht die Mutter aller Gedenkstätten, Yad Vashem. Sie gehört uns Juden. Dort ist die Erinnerung an unsere Toten in einer riesigen Datenbank gespeichert, dort ist der Ort für unser eigenes Gedenken. Mehr als diesen würdigen Platz brauchen wir Juden nicht."
Im Umgang mit der Mehrheitsgesellschaft tritt Menasse für einen Rückzug auch aus der "Rolle der Mahner und Erzieher" ein. "Junge Menschen über die Geschichte ihres Landes und über Recht und Unrecht aufzuklären, ist nicht Sache der Juden alleine, sondern vorrangig Sache der Mehrheitsgesellschaft." Vor allem sollen Juden, auch wenn es immer wieder zu antisemitischen Vorfällen komme, nicht "in jeder und jedem einen Antisemiten" sehen. "Es gibt mehr Menschen, die uns Juden wohlgesonnen sind als solche, die uns ablehnen. Das korreliert mit der Zahl der intelligenten Menschen. Sie sind auch in der Überzahl gegenüber den Dummen."
"Das große Tabu: Darf man Juden kritisieren?" betitelt das ORF-Fernsehen seine Club 2-Runde, die sich heute, Mittwoch, mit Menasses "Rede an uns" auseinander setzt. Mit dem Autor diskutieren unter anderen der Schriftsteller Robert Schindel, der Maler und Musiker Arik Brauer und die Zeithistorikerin Margit Reiter.
Wahltermine sind einplanbar – bewaffnete Auseinandersetzungen, wie jene, die aktuell zwischen Israel und Gaza tobt, nicht. Die jüngste Eskalation im Nahen Osten ist aber natürlich aus solch einer Diskussion dennoch nicht auszuklammern. Bereits am frühen Abend haben die IKG-Führung sowie zahlreiche weitere jüdische Institutionen zu einer Pro-Israel-Kundgebung unter dem Titel "Free Gaza from Hamas" aufgerufen. Veranstaltungsort ist der Platz vor der Staatsoper.
Ob in persönlichen Gesprächen, ob in Facebook-Statusmeldungen: die Solidarität mit Israel ist unter Wiener Community-Mitgliedern wie immer in solchen Situationen unabdingbar da. Hier wird das Selbstverteidigungsrecht Israels in einprägsamen grafischen Sujets, mit Fotos untermauert, hier wird die frühere israelische Ministerpräsidentin Golda Meir mit den Worten "We can forgive the Arabs for killing our children. We cannot forgive for forcing us to kill their children. We will only have peace with the Arabs when they love their children more than they hate us" zitiert. Vor allem aber wird herausgestrichen, dass irgendwann einmal auf den andauernden Raketenbeschuss reagiert werden muss. Inzwischen ist nicht nur der Süden des Landes unter Beschuss. Inzwischen gibt es auch in Tel Aviv regelmäßig Raketenalarm.
Kaum einer, der nicht Freunde, Bekannte, Verwandte in der israelischen Metropole hat. Wenn dann befreundete Mütter berichten, wie die Kleinen im Kindergarten Gott sei Dank geübt haben, wie man möglichst rasch in den Bunker läuft, wenn via Facebook live gepostet wird, wenn die Sirenen heulen oder irgendwo ein Einschlag zu hören war, wie sehr man sich über Iron Dome freut oder für die IDF, die israelische Armee, betet, dann fühlt sich diese kriegerische Auseinandersetzung sehr nah an. Dann steigt auch hier der Zusammenhalt, das Gefühl, zusammenstehen zu müssen gegen den äußeren Feind. Insofern ist auch mit einer regen Beteiligung an der heutigen Kundgebung zu rechnen. Hier werden Fraktionsdifferenzen kurzerhand beiseite gelegt. Nein, tausende Menschen werden nicht zu erwarten sein – wie auch, bei einer 7.700-Personen-Gemeinde. Doch einige hundert werden sich wohl um 18.00 Uhr in der Innenstadt versammeln.
Wenn man sich mit dem Selbstverständnis österreichischer Juden heute in Österreich auseinandersetzt, wie dies Menasse in seiner Streitschrift tut, darf man entsprechend auch das Verhältnis zu Israel nicht ausklammern. "Viele von uns haben Verwandte in Israel, zum Teil auch, weil ihre Kinder dorthin ausgewandert sind, um ihr Jüdischsein besser leben zu können. Daraus ergibt sich eine starke emotionale Bindung und Sorge um das Land. Der Sohn eines meiner Freunde betreibt seit einiger Zeit ein Geschäft in Eilat. 150 Meter davon entfernt schlugen vor kurzer Zeit von Terroristen abgefeuerte Raketen ein. Für den Vater steht wahrlich nicht im Vordergrund, über die Fehler Israels zu diskutieren. Wer um seine Kinder fürchtet, trifft ungern Abwägungen über das angebliche Recht, Raketen abzuschießen." Menasses Fazit: "Es gibt also eine Affinität zu Israel, die allzu radikale Kritik nicht zulässt."
Die abendliche Club 2-Diskussion dürfte genau das liefern, worüber sich Fernsehmacher freuen: ein innerjüdischer Konflikt vor dem Hintergrund einer kriegerischen Auseinandersetzung in Nahost. Genau in solchen Situationen zeigt sich, dass es eben immer noch keinen normalen Umgang zwischen Juden und Mehrheitsgesellschaft gibt. Auch hier ist noch kein Königsweg gefunden.