Im Vorraum zur Synagoge in der Seitenstettengasse befindet sich ein Denkmal, das an die durch die Nationalsozialisten ermordeten Jüdinnen und Juden erinnert. Name für Name wurde hier in Steinplatten verewigt, durch die man sich quasi blättern kann. Zur leichteren Handhabung gibt es alle Namen auch auf Papier in einem dicken Ordner, der auf einem kleinen Tischchen vor dem Denkmal platziert wurde. Vor ein paar Wochen hat das Kind die Mappe für sich entdeckt. Nun liest sie jedes Mal, wenn wir den Raum passieren, um ins Gemeindezentrum zu gelangen, wo der Religionsunterricht abgehalten wird, ein paar Namen vor. Ja, es ist die Lust am Lesen einer Taferlklasslerin. Es ist aber auch die Neugier: Finde ich auch heute wieder eine Frau, die meinen Vornamen getragen hat, einen Mann, der so hieß wie wir, Weiss? Die wöchentliche Namenssuche, sie schlägt die Brücke in die Vergangenheit, schafft ein Band des Zusammenhalts.
Menschen in Erinnerung zu behalten ist dem Judentum immanent. Vergangene Woche als die Situation in Nahost eskalierte und auf beiden Seiten Tote zu beklagen waren, da wurde auf Facebook Foto und Name eines getöteten israelischen Soldaten gepostet und immer weiter gepostet. Kommt es zu Anschlägen auf Juden in Israel und anderswo – erinnern Sie sich noch an die Morde vor einer jüdischen Schule in Toulouse? – werden Fotos und Namen veröffentlicht. Juden in aller Welt beten, reden über die Verstorbenen, lassen sie so nicht ins Vergessen geraten.
Dienstag Abend lud "Das Jüdische Echo" (www.juedischesecho.at) zur Präsentation seiner Ausgabe von 2012 in die Räumlichkeiten der Volksanwaltschaft in der Wiener Singerstraße. "Jugend im Aufbruch: gestern, heute morgen" ist das Thema des diesjährigen Bandes. Jung war auch einmal der inzwischen verstorbene Holocaustüberlebende, der "Das Jüdische Echo" begründete: Leon Zelman.
Und so bat Echo-Chefredakteurin Marta S. Halpert Falter-Chefredakteur und Autor Armin Thurnher zum Lesetisch, um Episoden aus der Jugend Zelmans zu erzählen. Thurnher hatte 1995 die Lebenserinnerungen des großen Brückenbauers aufgezeichnet. Man habe sich stets am selben Ort – dem Gerstner auf der Kärntnerstraße – getroffen, und auch immer ein und dieselbe Speise geordert: faschierte Laberln mit Kartoffelpüree. Doch später, als das Buch erschien, da war es Zelman nicht mehr so recht, dass Thurnher diese Episode erzählte und er versuchte das Publikum mit einer launigen Bemerkung abzulenken.
"Typisch Leon", war hinter und neben mir am Dienstag zu hören und in diesem "typisch Leon" schwang eine liebevolle Erinnerung mit, eine Erinnerung, über die sich Zelman gefreut hätte. Ich selbst erinnere mich, wie Zelman immer "Mädele" zu mir sagte, da war ich allerdings schon weit über 30. Und auch wenn ich wusste, dass er dies zu vielen sagte, ärgerte es mich jedes Mal. Heute schmunzle ich und denke mir auch, ja, so war er, wenn man das erlebt hat, was er erlitten hat, dann darf man "Mädele" sagen zu mir. Das fortschreitende Alter stimmt wohl jeden milder.
"Ich bin Leon Zelman, 17 Jahre alt, aus Szczekociny, wiege 38 Kilo, leide an Hungerödemen, Schwäche, spucke Blut und liege in dem zum Spital des Roten Kreuzes umfunktionierten Hotel Goldenes Kreuz in Bad Ischl in einem Bett. In einem richtigen Bett. Es ist arm und sauber", las Thurnher Dienstag Abend aus den Erinnerungen Zelmans – die ausschnittsweise nun auch im diesjährigen Echo nachzulesen sind.
Und Thurnher trug weiter vor, aus einer anderen Passage des Buches: " ich kümmerte mich darum, dass die Kommunikation zwischen den Kranken im Spital Bad Ischl, denen in Bad Goisern und denen in umliegenden Spitälern funktionierte. Im Spital Gmunden lag beispielsweise ein schwer lungenkrankes Mädchen. Ihre Mutter war aus einem anderen Lager befreit worden und wusste nicht, wo ihre Tochter lag. Es gelang mir, die beiden zusammenzubringen, und natürlich verliebte ich mich in das zarte, blasse, wunderschöne Mädchen. Ich besuchte Friedzia Friedberg, so hieß sie, mit ein paar Freunden zwei-, dreimal in der Woche. Ihr langsames Sterben machte uns tiefen Eindruck. Eines Tages saß ihre Mutter wortlos beim Bett, hielt ihre Hand. Das Mädchen war tot. Ich brachte die traurige Botschaft zurück nach Bad Goisern. So seltsam es klingt, wir empfanden unsere Trauer wie ein Erwachen. Nach aller Gewöhnung an massenhaftes Sterben spürten wir nun wieder den Schmerz über den Tod eines lieben Menschen. Der Tod, ein Lebenszeichen." Was für ein Bild, mit dem sich Zelman Dienstag Abend neuerlich in die Köpfe des zahlreich erschienenen Publikums einschrieb.